In Gottes Kraft und Demut leiten – wie Jesus

Charisma und die Verführung zur Macht #2: Ein falsches Leitungsverständnis schwächt die Kirche. Swen Schönheit warnt geistliche Leiter vor der Versuchung, vom Vorbild Jesu abzuweichen und in die Machtfalle zu geraten (Teil 1 hier)

Ein Schlüsselbegriff für das Wirken des Heiligen Geistes ist bei Paulus „Charisma“ – eine Gnadengabe, ein unverdientes Geschenk. Daher stammt die Selbstbezeichnung der „charismatischen Bewegung“, die zusammen mit der Pfingstbewegung die Gaben des Geistes im 20. Jahrhundert für die Kirche neu entdeckte. Umgangssprachlich ist „Charisma“ allerdings heute eher ein Markenzeichen für Beauty und Lifestyle oder ein Merkmal von Menschen mit faszinierender Ausstrahlung. 

Der Baptist Siegfried Großmann weist in seinem Buch „Beschenkt mit den Gaben des Heiligen Geistes“ (2019) darauf hin, dass der Begriff Charisma, „der in der Theologie jahrhundertelang im ‚Schlafmodus‘ verharrte“, erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Soziologen Max Weber (1864-1920) neu in die Diskussion eingeführt wurde. Weber setzte sich nach dem Zerfall des Kaiserreichs mit der Frage der angemessenen Staats- und Regierungsform auseinander und bezeichnete mit dem Stichwort „Charismatismus“ eine Form der Herrschaft, die andere Menschen dazu bringt, einem Führer bedingungslos zu folgen. Geradezu prophetisch wirkt Webers Beschreibung in einer damals politisch fragilen Zeit (seine Texte zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ erschienen posthum 1922): „Der Charismaträger findet Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner erfolgreichen Sendung.“ Daraus leitet er „sein ‚Recht‘ auf Anerkennung ab“, und genau diese Anerkennung „des charismatisch Qualifizierten ist die Pflicht derer, an welche sich seine Sendung wendet“.

Verführung zur Macht – damals wie heute

Siegfried Großmann (+ 2022) beobachtet nun „gerade in der charismatischen Bewegung viele Gruppen und Gemeinden, in denen nicht das Bild vom Leib Christi, sondern der webersche ‚Charismatismus‘ verinnerlicht worden ist. Je ‚charismatischer‘ die Leitungskompetenz wirkt, desto größer ist die Versuchung, die Autorität des Heiligen Geistes durch die eigene Autorität zu ersetzen“ (vgl. Beschenkt mit den Gaben des Heiligen Geistes – Charismatisches Christsein entdecken. Holzgerlingen 2019, S. 48-52).

Jede Generation muss sich wieder neu entscheiden, bewusst in die Schule Jesu zu gehen. Er ist das Original, Gottes leuchtendes Vorbild für geistliche Leitung – „einer allein ist euer Lehrer. Ihr aber seid doch alle Schwestern und Brüder, auf einer Ebene!“ (Matthäusevangelium, Kap. 23, V. 8). Jesus hat uns ein deutliches Modell für „dienende Leitung“ hinterlassen und damit für alle Zeiten Maßstäbe gesetzt (vgl. Matthäusevangelium, Kap. 20, V. 26-28). Sind wir bereit, diese Lektion von ihm zu lernen? Wie viel „Ich“ steckt in mancher Predigt? Wie viel Selbstdarstellung in unserem Auftreten? Wie viel Selbstverliebtheit in unserem Amt? Führen wir unsere Gemeinden oder Werke im Tiefsten selbstzentriert und betrachten andere Menschen als „unsere Leute“? Weiden wir wirklich „die Herde des Herrn“ (vgl. Apg 20,28-30)?

Eine gesunde Leitungskultur zahlt sich aus

Wir folgen einem König, der auf alle Insignien der Macht verzichtete. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“, antwortet Jesus dem machthungrigen Prokurator Pilatus auf seinem Weg ins Leiden (Johannesevangelium, Kap. 18, V. 36). Seine Nachfolger hielten sich dieses Bild vor Augen, während viele von ihnen in den ersten drei Jahrhunderten ihr Zeugnis mit dem Leben bezahlten. Verfolgung hat die Kirche nie wirklich aufhalten können, damals wie heute. Machtstreben und Verteilungskämpfe dagegen schwächten sie über Generationen. „Nur allein der neue König der neuen Zeiten, Christus Jesus, hat die Herrschaft und Hoheit seiner neuen Herrlichkeit auf der Schulter hinausgetragen, nämlich das Kreuz, damit […] von da ab der Herr vom Holze herab König sei“, schrieb der Kirchenvater Tertullian (ca. 150-220; Die fünf Bücher gegen Marcion, 3. Buch, Kap. 19).

Wir schmälern die Salbung des Heiligen Geistes in keiner Weise, wenn wir in unserem Leitungsstil für Mitbestimmung, ehrliches Feedback sowie Korrektur- und Lernbereitschaft sorgen. Charismatisch zu leben und zu leiten bedeutet, in der Kraft des Geistes dem Leitbild Jesu zu folgen!

Swen Schönheit

Swen Schönheit ist evangelischer Pfarrer im Ruhestand und 1. Vorsitzender der GGE Deutschland.

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