Hans-Joachim Scholz ist vor Kurzem aus Israel zurückgekehrt. Er bringt Eindrücke mit und wegweisende geistliche Impulse aus einem zerrissenen Land.

Zakki (Name geändert) lebt in der Nähe des Ben Gurion-Flughafens in Israel. Eine Huthi-Drohne hat neulich da eingeschlagen. Zakki hat einen Schutzraum gebaut, direkt neben dem Wohnzimmer. Ich bin der erste, der darin übernachtet hat. Zakki sagt: „Gestern sind die noch lebenden Geiseln freigekommen. Welche Erleichterung für die Familien, für uns alle. Mein Neffe wurde gleich beim Überfall umgebracht. Wer heilt uns diesen Schmerz? Jetzt bin ich 75. Das ganze Leben immer bedroht, immer mitten unter Feinden. Wie wird unsere Zukunft sein?“
„Habt Ihr eine Waffe gegen den Hass?“, frage ich Efri. Er ist Sozialarbeiter, betreut Opfer des Überfalls auf den Kibbutz Nir Oz. „Nein“, sagt er, „ich war religiös, das hat nicht getaugt für das moderne Leben, hab mich davon gelöst und ein humanistisches Weltbild gemalt. Der Terror hat es zerstört.“
Mit dem Botschafter Nordmazedoniens in Israel spreche ich über Versöhnung. Wie er die Chancen dafür sieht. Aus den Streitereien seines Landes mit dem Nachbarland Bulgarien schließt er: „Wenn wir uns nicht einigen können, ob Bulgarisch und Nordmazedonisch zwei Dialekte der gleichen Sprache sind, was soll mit Israel und den Arabern werden?“ Alle fühlen sich als Opfer, sind Opfer und machen einander wieder zu Opfern. Anklagen, Forderungen nach Anerkennung und Kompensation, Gewalt und Verachtung, letztlich die Sehnsucht zu triumphieren – all das blockiert immer wieder vernünftige Lösungen. Wir kommen auf Abraham zu sprechen. Ihm sagte Gott: „Ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein“ (1. Buch Mose, Kap. 12, V. 2).
Wie werden aus Opfern Segensbringer?
Gibt es eine „Opfer-Täter-Umkehr“ in einem vollständig anderen Sinn? Nämlich, dass Opfer sich von ihrer Opfer-Identität lösen und für andere zu „Segens-Tätern“, zum Segen werden können?
Shelly hat einen Besuch in der Bar-Ilan-Universität arrangiert. Ruti leitet dort ein Therapieprogramm für geistig und körperlich behinderte junge Musiker. Sie spielen uns mit sprühender Begeisterung den Abba-Hit „Mamma mia“. Ich erzähle dem Botschafter davon: Liad und Shay bringen ihre Begabung mit den anderen zusammen voll zur Geltung; ja, mit etwas Hilfe, aber dann sind sie nicht „beeinträchtigt“, sind keine „Opfer“, sondern füreinander und ihre Zuhörer und Zuschauer – sie performen! – ein wahrer Segen.

Mich bringen diese Begegnungen ins Nachdenken: Was könnte geschehen, wenn der „Opfer-machen-Opfer-Zirkel“ durchbrochen würde von Menschen, die sich entscheiden, ihre – ohnehin immer begrenzten – Begabungen und Potenziale, ihr Vermögen an Zeit und Geld konsequent zum Segen für ihre Mitmenschen einzusetzen – und durchaus für ihre Feinde (s. Lukasevangelium, Kap. 6, V. 27-35)?
Was jüdische und arabische Jesus-Gläubige erleben
Ein Paradigmenwechsel gelingt nur mit Entschlossenheit und Konsequenz. Interessant, dass genau das auf der Tagung von „Toward Jerusalem Council II“ (TJCII) International in Jerusalem von messianisch-jüdischen und christlich-arabischen Rednern betont wird. Ein arabischer Pastor aus Nazareth berichtet, wie ihn seine Entscheidung für Versöhnung sofort zur Zielscheibe massiver Attacken gemacht hat: Er werde als Verräter beschimpft und bedroht, weil er Liebe gegen den Hass setzt und die Verbindung mit Juden sucht. Eine arabische Pastorenfrau weigert sich, Opfer der Umstände zu sein: Dass sie als Jesus-Nachfolgerin isoliert ist, erlebt sie als Segen – vergleichbar mit der Wüstenzeit des Volkes Israel, in der es lernte, was der wahre Gottesdienst ist. Oder vergleichbar mit dem Leben Johannes des Täufers in der Abgeschiedenheit oder der Vorbereitung Jesu für seine Mission durch 40 Tage Fasten in der Wüste. Entsprechend heftig erlebt ein messianisch-jüdischer Pastor wiederum seine rein jüdische Nachbarschaft in Sderot: Sie beschimpfen ihn wegen seines Bekenntnisses zu Jeschua, zu Jesus, als „Götzendiener“. Für seine Nachbarn ist religiöse Strenge der einzig gangbare Heilsweg – der jedoch keine Versöhnung mit Andersdenkenden ermöglicht.
Beten für das Leid in Gaza
Dazu das Weinen über die unbeschreibliche Not der Menschen in Gaza: die Klage über die Gewalt der Waffen und die Verbrechen der Hamas, aber auch über die Zerstörung der vielen Häuser durch israelische Bomben, den täglichen Mangel an Nahrung und Medizin … die Schreie nach Gottes Erbarmen kommen aus dem Mund der jüdischen Teilnehmer dieser Konferenz! Sie gestehen ihre Ohnmacht ein, sie beten laut – sie ignorieren das Leid nicht, sie schauen nicht weg, sie unterdrücken all die Gefühle und Gedanken nicht, die unsere Gemüter erreichen. Doch wer weiß schon, was wirklich in Gaza passiert? Welche Nachricht fake ist, welche echt? Es spielt keine Rolle: Sie suchen miteinander vor Gott Hilfe, Trost und Weisung. Das allein zählt.
Gottes Volk: Berufen, gemeinsam ein Segen zu sein!
Ruben Berger, Leiter einer messianisch-jüdischen Gemeinde in Jerusalem, kommt auf der TJCII-Konferenz auf das Bild vom Ölbaum zu sprechen, mit dem der Apostel Paulus das Volk Gottes aus Juden und Heiden beschreibt (vgl. Römerbrief, Kap. 11, V. 16-24). Der Ölbaum, also das Volk Gottes insgesamt und miteinander, soll Frucht bringen – das gewonnene Öl ist als Salböl ein Zeichen für und ein Vermittler von Gottes Herrlichkeit, seinem Segen und seinem Schalom, seinem umfassenden Frieden. Was durch den Heiligen Geist unter und in den Gläubigen geschieht, bewirkt Veränderung in der Welt!
Jesus, der Messias, hat sich stellvertretend für alle geopfert, damit nun „diejenigen, die sein neues Leben erhalten, nicht länger für sich selbst leben. Sie sollen vielmehr für Christus leben, der für sie starb und auferstanden ist“ (2. Korintherbrief, Kap. 5, V. 15). Die Erlösung und die Berufung des Leibes Christi gemeinsam zum „priesterlichen Dienst“ (vgl. 1. Petrusbrief, Kap. 2, V. 5 u. 9), also im Gebet das Bindeglied zwischen einer irdischen Situation und Gottes guten Absichten zu sein, ist kein Selbstzweck für die Gläubigen. Der Leib Christi, der Ölbaum, vermittelt Gottes Segen für die Welt – auch, damit Menschen herausfinden aus der traumatischen Erfahrung, Opfer zu sein und selbst zum Segen werden für andere. Die einstigen Opfer werden zu Segens-Tätern, „zum Segen“!
Wird es nun Zeichen der Versöhnung geben durch die arabischen Christen und messianischen Juden in Israel? Wird der Geist Gottes sein Volk bestärken in seiner Berufung, den Völkern Gottes Schalom zu bringen? So beten Juden – und so beten wir mit dem Schluss des Kaddisch-Gebets im jüdischen Gebetbuch: Oseh schalom bim romav, hu jaase schalom aleinu we al kol Jisrael, we imru amen! – Der Frieden schafft in den Höhen, schaffe auch Frieden für uns alle, und für ganz Israel. Dazu sprecht: Amen!

von