Gesunde Leitung strebt nicht nach Machtpositionen, sondern folgt dem Vorbild Jesu: Kein Dienst in der Kraft des Geistes wird ohne Charakterformung gelingen. Von Swen Schönheit.

Wer sich in der pfingstlich-charismatischen Szene umschaut, begegnet einer Kultur und bestimmten Ausdrucksformen, die für traditionelle Gottesdienstbesucher zumindest ungewohnt sind. Nun muss man das Fremdartige ja nicht gleich feindselig betrachten: Mega-Gemeinden in Afrika ticken nun mal anders als unsere Kirchengemeinden. Lobpreis in Lateinamerika klingt anders als Orgelmusik (oder auch Lobpreis bei uns). Asiaten verstehen Leitung anders als wir in Europa. Hierzulande sind in den letzten Jahren große freikirchliche Gemeinden entstanden, die im urbanen Raum besonders auf junge Leute anziehend wirken. Das Bühnenprogramm ist professionell, die Performance zeitgemäß und geprägt sind solche „neuen“ Gemeinden in der Regel von meinungsstarken, medial wirksamen Pastoren. So weit, so gut.
Zu ungesunden Entwicklungen kommt es allerdings dort, wo pfingstlich-charismatisch geprägte Gemeinden oder Werke sich auf ihre Leitungspersonen und deren Ausstrahlungskraft fokussieren. Und wo gegenüber den Nachfolgern Jesu zugleich der Anspruch erhoben wird, auch der Autorität der Leitenden widerspruchsfrei Gefolgschaft zu leisten. Wenn in charismatischen Versammlungen Zeichen und Wunder und Heilungen geschehen, scheint die „Salbung“, die besondere Befähigung und das besondere Wirken durch den Geist Gottes, offensichtlich zu sein. Doch wie sieht es hinter den Kulissen aus? Gibt es noch Raum für kritische Rückfragen oder werden sie gleich als „Rebellion“ abgetan? Wo vermischt sich geistliche Leitung unter der Hand mit Druck, Dominanz und Distanzlosigkeit?
Saul versus David – oder: Salbung ohne Charakter
Bringt der Heilige Geist Machtstrukturen hervor? Im Alten Testament lesen wir, wie Heerführer, Priester und Propheten, Künstler und Musiker eine „Salbung“ von Gott erfuhren und dann oftmals das Unmögliche bewirkten. Am Beispiel der Richter, namentlich Simson, sehen wir aber auch, wie Charisma und Charakter auseinanderklaffen können. Die Kraft des Geistes ist noch nicht gleichbedeutend mit der Veränderung des Geistes im Menschen. Wieso scheiterte Saul, der erste König in der Geschichte Israels? Er bekam doch durch den Propheten Samuel die Zusage: „Der Geist des HERRN wird über dich kommen, und auch du wirst in Verzückung geraten und prophetisch reden. So wirst du in einen anderen Menschen verwandelt werden“ (1. Buch Samuel, Kap. 10, V. 6) – offenbar erlebte Saul nicht nur die Kraft des Geistes, sondern machte auch „charismatische“ Erfahrungen! Aber in seinem Charakter entzog er sich der Erneuerung durch Gottes Geist und entwickelte sich zunehmend destruktiv.
Saul wurde von Gott durch den jungen David ersetzt, „einen Mann nach seinem Herzen“ (1. Buch Samuel, Kap. 13, V. 14). Doch später leistete er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht kapitale Fehler: Ehebruch, Vertuschung und ein Auftragsmord brachten ihn an den Rand des Abgrunds. In dieser Situation betete David um „einen neuen, beständigen Geist“, denn er hatte erkannt, wie sehr er Gottes schöpferisches Eingreifen für sein Herz brauchte (Psalm 51, V. 12). Kommen wir zu dieser Erkenntnis möglicherweise erst durch Krisen und Brüche in unserem Leben?
Jesus ist der Leiter, der diente
Wo Jesus von seinen Zeitgenossen als Messias anerkannt wurde, nannte man ihn „Sohn Davids“, nicht Sohn Sauls. Der Mensch gewordene Gottessohn hinterließ uns ein prägendes Vorbild an dienender Leitung: „Mein Joch ist sanft …“(Matthäusevangelium, Kap. 11, V. 30). Er ging in die Geschichte ein als der Meister, der seinen Schülern die Füße wäscht (vgl. Johannesevangelium, Kap. 13, V. 1-20). Dennoch werden wir im Raum der Kirche immer wieder erleben, wie Söhne Sauls aufstehen, die nach Macht streben, durch Kontrolle ihre Ziele verfolgen und Abhängigkeiten schaffen. Um sie herum entsteht eine Atmosphäre der Einschüchterung. Wer sich ihrem System entzieht, wird beschämt und nimmt möglicherweise in seinem Glauben Schaden.
Gott befähigt und bevollmächtigt nicht nur Einzelne
„Doch ihr habt die Salbung“: Dies schreibt Johannes der gesamten Gemeinde, nicht nur herausragenden Leitern (1. Johannesbrief, Kap. 2, V. 20). Dass es zu einer Art „Demokratisierung“ bei der Ausgießung des Geistes kommen würde, deutete sich bereits im Alten Testament an (vgl. 4. Mose, Kap. 11, V. 29; Joel, Kap. 3, V. 1-2). Im großartigen 12. Kapitel seines ersten Korintherbriefs spricht Paulus ausführlich über die Geisteswirkungen. Interessanterweise verbindet er dabei das Wirken des Heiligen Geistes und seine Gaben mit der sozialen Frage (V. 12-13). Maßgeblich für alle nachfolgenden Generationen skizziert der Apostel ein Leitbild der Gemeinde: Sie ist der „Leib des Christus“ – Kirche ist nach Gottes Vorstellung immer Beteiligungskirche! „Die Dienste sind verschieden“, sie werden der Gemeinde aber „so zuteil, dass es allen zugute kommt“ (V. 5-7). Dass der Heilige Geist ein starkes „Wir“ hervorbringt, wird am Leitungsstil des Paulus deutlich. Der Apostel wusste um seine Autorität und hätte in Konfliktsituationen durchaus die Machtkarte ziehen können. Stattdessen setzte er aber immer auf Verständigung, Versöhnung und Ausgleich. Dass aus seinem Umfeld über 30 Männer und Frauen im Neuen Testament namentlich bekannt sind, zeigt seine Entschlossenheit zur Teamleitung!
Was macht einen Apostel eigentlich aus?
Die Gemeinde in Thessalonich hat Paulus an die Zeit erinnert, als er sie gründete: „Wir haben auch nicht Ehre von Menschen gesucht, weder von euch noch von anderen, obgleich wir als Apostel des Christus würdevoll hätten auftreten können“ (1. Thessalonicherbrief, Kap. 2, V. 6-7). Derzeit entstehen auch bei uns „apostolische“ Netzwerke, auf anderen Kontinenten führen „Apostel“ große Gemeinden an. Deshalb sollten wir uns die Mühe machen, genauer hinzuschauen: Was waren denn die Wesenszüge eines Apostels in den Tagen des Neuen Testaments und in der frühen Christenheit? Welche „Aura“ umgibt einen wahrhaft apostolischen Menschen? Paulus jedenfalls legte väterliche und (!) mütterliche Züge an den Tag (vgl. 1. Thessalonicherbrief, Kap. 2, V. 7 u. 11). Genau dies brauchen wir in einer Zeit, da die meisten Elternhäuser eine gesunde Autorität vermissen lassen und in so vielen jungen Leuten ein Machtvakuum zurückbleibt. Führung tut not – aber im Geiste Christi!
Wer auf der Bühne im Rampenlicht steht oder in sozialen Medien präsent ist, muss in besonderer Weise eine innere Entscheidung treffen: Geht es mir primär um Ehre und Ansehen oder möchte ich im Sinne Jesu anderen dienen und sie auf seine Spur führen? Reicht mir der Einfluss durch mein Vorbild und die Prägekraft durch Gottes Wort oder greife ich zu Machtmitteln? Vielleicht würde Paulus auch heute im Blick auf manche Leiter fragen: „Im Geist habt ihr angefangen und jetzt wollt ihr im Fleisch enden?“ (Galaterbrief, Kap. 3, V. 3).
Fortsetzung am 21. August: Sind „Charismatiker“ besonders gefährdet, Autorität zu missbrauchen?