Das Evangelium schafft den Spagat

Stirbt die Sehnsucht nach Gott in Deutschland aus? Kann Kirche nur noch Gemeinschaft und nicht mehr Glaube? Laut 6. KMU sieht es danach aus. Wie er dazu steht, sagt Axel Nehlsen heute im 1. Teil seiner Analyse zur aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.   

In den Medien hat die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) viel Beachtung gefunden. Zahlreiche Abgesänge auf die düstere Zukunft sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche wurden dort angestimmt. In drei Teilen stelle ich die wichtigsten Ergebnisse dar. Ich befrage sie besonders unter dem Gesichtspunkt, was sie für lebendige Gemeinden, für eine missionarische Kirche und für die Erneuerungsbewegungen bedeuten. Heute geht es im 1. Teil um die grundsätzliche Frage: Ist noch jeder Mensch auf Gott ansprechbar – oder eben nicht?

Neu: Die 6. KMU soll für die gesamte Bevölkerung sprechen

Zweierlei ist neu an der 6. KMU der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Zum ersten Mal hat sich auch die Katholische Kirche in Deutschland beteiligt. Und es wurden Menschen aus der gesamten Bevölkerung befragt. Deshalb lässt sich realistischer einschätzen, welche Rolle Religion und Glaube in Deutschland derzeit tatsächlich spielen. In der Umfrage bleibt allerdings unscharf, nach welchem Verständnis von Religion oder Religiosität sie fragt. Es wird nicht von Spiritualität und Glaube abgegrenzt.  

Stirbt die Sehnsucht nach Gott in Deutschland aus?

Die 6. KMU stellt die verbreitete These in Frage, dass es einen Hunger nach Spiritualität in der Breite unserer Bevölkerung gibt und dass Menschen grundsätzlich auf Gott hin ansprechbar sind: „Kirchliches Handeln kann … nicht mehr davon ausgehen, dass Religiosität eine anthropologische Konstante ist, die nicht zurückgehen könne. Sinnvoller ist es, sich Religion als ein kulturelles Phänomen vorzustellen, das – wie andere kulturelle Phänomene auch – Phasen der Ausbreitung oder des Rückgangs durchlaufen kann. Wenn Religion aus dem Leben von Einzelnen verschwinden kann, dann kann sie sogar aus Gesellschaften verschwinden“. Die Untersuchung spricht von einer „Krise des religiösen Glaubens“ – ohne Anzeichen für eine Trendwende.

Gleichzeitig überrascht, dass laut der KMU „kirchenferne Religiosität … keine ernsthafte Konkurrenz für die Kirchen“ ist. Früher gab es eine stärkere nichtchristliche Spiritualität etwa auf esoterischem Gebiet. Noch bis vor etwa zehn Jahren stellten viele Analysen eine „Baumarkt-Spiritualität“ fest. Das hieß, dass viele sich aus der Fülle der spirituellen Angebote ihre individuelle Spiritualität zusammenbastelten. Das ist nach der KMU offenbar nicht mehr der Fall: Außerkirchliche religiöse Angebote spielen kaum noch eine Rolle. Die Deutschen scheinen „unheilbar unreligiös“ zu sein.

Kirche soll „Unfromme“ erreichen – nur: womit?

Die KMU zieht aus diesen Daten die folgenden Konsequenzen: „Säkulare sind aus verschiedenen Gründen eine wichtige Zielgruppe.“ Sie sind inzwischen gesellschaftlich in der Mehrheit. „Auch unter den Kirchenmitgliedern ist ihr Anteil nicht unerheblich“ (!). „Säkulare sind mit einer religiösen Sprache schwer erreichbar. Die Kirche muss daher ihre Anstrengungen verstärken, ihre Botschaft in einer Sprache zu formulieren, die anschlussfähig ist. … Wie kann der Mehrwert religiösen Erlebens, Denkens und Handelns Menschen vermittelt werden, die Religion aus ihrem Leben verabschiedet haben?“ An dieser Stelle spätestens wäre es erforderlich, nicht nur vom Mehrwert der Religion, sondern von Mission zu sprechen, was aber leider in der Studie nicht geschieht.

Die Untersuchung stellt auch die gelegentlich geäußerte Vermutung in Frage, dass eine relevante Zahl von Mitgliedern aus den Landeskirchen zu Freikirchen wechselt: „25% sind aus ihrer ursprünglichen Religionsgemeinschaft ausgetreten und nun konfessionslos“ und nur „2,5% sind zwischen verschiedenen Konfessionen gewechselt“. Deprimierend ist die Prognose, dass die von der „Freiburger Studie“ vorausgesagte Halbierung der Mitgliederzahlen bis zum Jahr 2060 tatsächlich bereits in den 2040er-Jahren erreicht sein dürfte.

Am meisten gefragt, erwartet und eingefordert würden Aktivitäten der Kirche im Bereich sozialen und solidarischen Handelns: „Setzt die Kirche hier einen Schwerpunkt, wird sie die größte Zustimmung und Attraktivität entfalten können“, so die KMU.

Wie gehen wir jetzt damit um?

Das sind äußerst wichtige Fragen für die Zukunft der Kirche und des Glaubens im Land. Wie kann nun ein missionarisches Kirchenverständnis damit umgehen? Was bedeuten diese Aussagen für eine auf die Erneuerung durch den Heiligen Geist hoffende Gemeinde? Das wirft die grundsätzliche Frage auf, inwieweit Umfrageergebnisse unser Denken und Handeln bestimmen sollten. Und soll eine auf die christliche Kernbotschaft ausgerichtete Gemeinde sich diesem Erwartungsdruck der Mehrheit beugen oder nicht umso mehr bei ihrer Sache des Evangeliums bleiben?

Sicher ist es prinzipiell falsch, den Menschen nach dem Mund zu reden. Neutestamentliche Aussagen ermutigen uns, das „Wort zur Zeit und zur Unzeit zu predigen und dazu zu stehen“ (so Paulus im 2. Brief an Timotheus, Kap. 4, V. 2). Paulus ermahnt die Gemeinde, sich „nicht dem Schema dieser Welt anzupassen“ (so wörtlich im Römerbrief, Kap. 12, V. 2). Das heißt doch, dass weder Umfrageergebnisse noch die religiöse Selbsteinschätzung der Menschen den Inhalt unserer Mission und Verkündigung bestimmen dürfen.

Dass die Menschen in unserem Land mehrheitlich gar nicht mehr religiös ansprechbar seien, heißt ja nicht, dass das Wort und der Geist Gottes diese Schranke nicht durchbrechen könnten. Es ist allemal ein Wunder, aber auch eine uns verheißene Wirkung des Heiligen Geistes, wenn ein Mensch sich für Gott und Jesus öffnet.

Ferner bin ich weiterhin der Überzeugung, dass auch „religiös Unmusikalische“ – und zwar entgegen ihrer Selbsteinschätzung – eine verborgene (!) Sehnsucht nach Gott in sich tragen. So wie es Augustinus gesagt hat: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ (Bekenntnisse 1,1).

Anknüpfen und widersprechen: Das Evangelium schafft diesen Spagat!

Für alle missionarischen Bemühungen samt der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums ergeben sich daraus folgende Fragen: Inwieweit darf oder muss Mission bei der Befindlichkeit und der Situation der anzusprechenden Menschen anknüpfen? Oder inwieweit muss sie gerade dieser vorhandenen Erwartungshaltung widersprechen?

Die KMU folgert, dass eine Verkündigung für säkulare Menschen „anschlussfähig“ sein muss. Aber ist das Evangelium nicht immer eine Herausforderung, aus den eigenen Denksystemen auszusteigen? Muss es nicht per se einer gottfernen Haltung widersprechen? In der Geschichte waren die Zeiten, in denen die Kirche sich zu sehr an die gesellschaftlichen Vorgaben anpasste, die gefährlichsten für ihre Treue zur biblischen Botschaft (zum Beispiel im Mittelalter und im „Dritten Reich“ der Nationalsozialisten).

In den 1930er-Jahren gab es in der deutschen Theologie eine Auseinandersetzung über diese Frage: Soll und kann die Verkündigung des Wortes Gottes an der Befindlichkeit des Menschen anknüpfen oder soll sie dieser gerade widersprechen? Die Theologen Emil Brunner und Karl Barth waren die Wortführer der einen und der anderen Position.

Ich finde diese Alternative nicht zielführend. Ich glaube, dass beides nötig ist. Das Wort Gottes hat die Fähigkeit und die Kraft, beides zu bewirken. In heutigen Begriffen: Es knüpft zum einen bei der (teils nicht bewussten!) Sehnsucht des Menschen nach Sinn, Geborgenheit, Gemeinschaft und Liebe an. Es muss zum anderen den falschen Lösungen für diese Sehnsucht (Selbstoptimierung, Bedürfnisbefriedigung, Egoismus, Durchsetzung der eigenen Interessen) deutlich widersprechen. Ja, bei Gott finden wir natürlich Sinn, Geborgenheit, Gemeinschaft und Liebe. Aber er holt uns auch heraus aus Selbstbezogenheit, Selbsterlösung und Kontrollzwang.

Im Ergebnis: Weder nur Anknüpfung noch nur Widerspruch ist die Lösung des Evangeliums. Sondern einer verantwortlichen Mission und einer guten Verkündigung der Kirche gelingt die Anknüpfung als Widerspruch. Das heißt also, dass es durchaus hilfreich ist, wenn wir an allgemeinen oder konkreten Lebenserfahrungen der Menschen anknüpfen. Zugleich aber muss eine biblisch begründete Mission den Glauben als Alternative zu den gängigen Lösungen anbieten. Dieser Doppelstrategie hat Gott im Buch des Propheten Jesaja seinen Segen verheißen: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“ (Kap. 54, V. 10-11).


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Axel Nehlsen

Axel Nehlsen, Pfarrer i.R., war bis 2016 Geschäftsführer des Stadtnetzwerks „Gemeinsam für Berlin“. Er ist als Mentor tätig und baut gerne Brücken zwischen Landeskirche und Freikirchen und zwischen evangelikaler und charismatischer Tradition.

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