„Hast Du mich lieb?“

Keine Vorwürfe, kein Misstrauen. „Hast Du mich lieb?“ – mehr will Jesus von Petrus gar nicht wissen, nachdem der ihn dreimal verleugnet hat. Wie unbedingt offen Gottes Tür für uns alle ist, sagt Klaus Douglass in seiner Deutung zur Jahreslosung 2022.

Berglandschaft

Ein Stern war vom Himmel gestürzt. Der junge Pastor einer Gemeinde hatte versagt. Irgendwie war es ruchbar geworden. Irgendjemand hatte geplaudert. Und die Presse hatte es natürlich gnadenlos ans Tageslicht gezerrt: „Ein Pastor, der sündigt“ – welch eine schöne Schlagzeile. Mag mancher den Glauben auch längst abgehakt haben, so etwas liest er dann doch mit großem Interesse. Ein Skandal! Nicht nur einmal, nein, gleich dreimal hatte der Pastor Dinge getan, die man als Pastor einfach nicht tut. Die Gegner des Mannes rieben sich die Hände, und seine Freunde gingen vorsichtig auf Distanz. Und im ganzen Ort fragte man sich, ob mit dem Fall des jungen Gemeindeleiters nicht die Integrität des gesamten Christentums infrage gestellt wäre. Morgen würde der Gemeinderat über seine Zukunft bestimmen. Und dem unglücklichen Mann war nur allzu klar, wie die Entscheidung ausfallen würde.

Gleich dreimal getan, was man nicht tut

Der Pastor liebte seinen Beruf und seine Arbeit war für ihn mehr als nur ein Broterwerb. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes eine Berufung. Er meinte wirklich ernst, was er sagte. Aber er war schwach geworden, ganz einfach schwach. Und nun war es mit Händen zu greifen: „Der ist nicht zu halten, dieser Mann. Das wäre schlecht für das Renommee der jungen Gemeinde. Er ist eben noch nicht reif genug, um die Gemeinde zu führen.“ Niemand wusste das besser als der Pastor selbst. Er setzte sich irgendwo an den Wegesrand und weinte. Doch wen kümmerten seine Tränen? Also fing er an zu beten: „Dreimal habe ich versagt, und ich kann keine Garantie abgeben, dass ich es nicht wieder tun werde. Ich bin einfach nicht für diesen Job gestrickt. Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Aber ich kann deinen Auftrag nicht ausführen. Nicht ohne deine Sache in Misskredit zu bringen. Herr, auf so tönerne Füße kannst du dein Reich nicht bauen. Die anderen sind einfach besser. Ich habe es probiert, aber ich schaffe es nicht. Vergib mir meine Vermessenheit und such dir jemand anderen.“

Er schloss die Augen und ging seinen Gedanken nach. Plötzlich hörte er Jesus zu sich sprechen:

Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! (Johannesevangelium, Kap. 21, V. 15-17)

Petrus als Pastor – was hätten Sie getan?

Wie hätten Sie entschieden, wenn Sie der Gemeinderat dieser Gemeinde gewesen wären und Petrus wäre Ihr Pastor gewesen? Petrus hat dreimal Jesus verleugnet – für einen Gemeindeleiter wahrscheinlich die unverzeihlichste aller Sünden. Eine seltsame Vorstellung: Hätte damals nicht Jesus, sondern ein Gemeinderat über das Schicksal dieses Gestrauchelten entschieden, wäre möglicherweise ein Mann wie Petrus für immer kaltgestellt und aus dem Verkehr gezogen worden. Ich weiß nicht, wie Sie entschieden hätten. Aber ich weiß, wie in der Kirche in solchen Fällen oft gehandelt wurde. Es ist wie bei einem Politiker, den man mit den Fingern in der Kasse erwischt: Der muss weg! Der ist nicht mehr haltbar! – Eine verständliche Reaktion. Aber ich behaupte, dass das gerade keine christliche, das heißt an Christus orientierte Vorgehensweise ist.

„Wenn Sie wüssten, was ich für einer bin“

Zu mir kam vor Jahren eine der tragenden Säulen unserer Gemeinde und sagte: „Wenn Sie wüssten, was ich für einer bin! Ich möchte, dass Sie, wenn Sie mir in dieser Gemeinde einen Dienst anvertrauen, wissen, auf welch tönerne Füße Sie die ganze Sache stellen.“ – Ja, ist es denn je anders gewesen? Gibt es auch nur einen einzigen Fuß in der Gemeinde, der nicht tönern ist? Passen Sie darum auf, bevor Sie eine Person in der Gemeinde allzu sehr hochjubeln. Sie provozieren damit nur einen umso höheren Sturz. Denn die Gemeinde Jesu ist nur auf tönerne Füße gebaut.

Jesus fragt nicht nach dem Warum

Die Frage, die Jesus dem Petrus stellt, ist nicht: „Warum hast du das getan?“ Sie lautet auch nicht: „Wirst du es nie wieder tun?“ Und schon gar nicht: „Wie konntest du nur?“ Da kommen kein Vorwurf, kein Misstrauen und keine Verurteilung. Die Frage, die Jesus dem Petrus stellt, lautet einfach: „Hast du mich lieb?“ – Hast du mich lieb? Wenn das der einzige Maßstab wäre, den wir in der Kirche an die Menschen anlegen würden, wie viel anders würde es in unseren Gemeinden aussehen! Wenn wir die Menschen nicht nach ihren Fähigkeiten und Begrenztheiten und Stärken und Schwächen und ihrer Selbstdarstellung und nach ihrem Versagen beurteilen würden, sondern einzig und allein danach, ob sie – und sei es in noch so großer Schwachheit – Jesus lieb haben.

Im Gespräch mit Petrus ist dies das Einzige, was Jesus interessiert: „Hast du mich lieb?“ Und als Petrus das stockend bejaht, geschieht das geradezu Unglaubliche: Jesus beauftragt ihn neu: „Weide meine Schafe.“

Wer wirklich von der Person Jesu geprägt ist, müsste aufhören, sich an den Sünden und Fehlern anderer zu ereifern, zu ergötzen oder auch zu stoßen. „Und so einer will Christ sein!“ – Ich kann diesen Satz nicht mehr hören! Wenn er kein Sünder wäre, wäre er auch kein Christ. Und wenn er in allem perfekt wäre, bräuchte er keinen Heiland. Man stelle sich das vor: ein Gemeindeleiter, der keinen Heiland (mehr) braucht! Ich frage mich, ob wir davon nicht viel zu viele haben …

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

Johannesevangelium Kap. 6 V. 37

Die Gemeinde Jesu steht auf tönernen Füßen – nämlich uns

Heißt das einfach: „Schwamm drüber – alles nicht so schlimm!“? Nein, das heißt es nicht. Das Gespräch, das Jesus mit ihm führt, ist Petrus alles andere als angenehm. Und über sein Versagen hatte er schon vorher bittere Tränen geweint. Im gleichen Evangelium sagt Jesus: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Kap. 6, V. 37). Das ist vielleicht der entscheidende Punkt. Sünderinnen und Sünder sind wir alle. Die Frage ist: Fliehe ich mit meiner Sünde von Jesus, renne ich vor ihm weg – oder gehe ich damit zu ihm, zitternd und zagend wie Petrus, halte sie ihm hin und sage: „Herr, das war nun wirklich unverzeihlich schlimm. Aber dennoch ist es wahr, dass ich dich liebe.“

Die Gemeinde von Jesus ist auf tönernen Füßen gebaut. Auf Menschen, die Jesus lieb haben und trotzdem voller Fehler, Schwachheit und Sünden sind. In der Theorie ist uns das klar. Warum wundern wir uns dann, wenn sich das im eigenen oder auch im Leben der anderen mal wieder offenbart? Schließlich halten wir – zumindest in der Landeskirche – zu Beginn jedes Gottesdienstes Gott unsere Schwachheit und unsere Sünden hin mit der Bitte: „Herr, erbarme dich.“ Das geschieht nicht, um uns künstlich kleinzumachen, sondern ist als Entlastung gedacht. Dass wir mit all dem, was uns belastet an Not und Schuld und Versagen, in den Gottesdienst kommen können, und Gott sagt uns: „Davon gehe ich aus, dass du Sünderin und Sünder bist. Du darfst trotzdem kommen, du sollst trotzdem mitfeiern. Ich stoße dich nicht zurück. Und schau um dich: Den anderen geht es auch nicht anders als dir – sonst würden sie an dieser Stelle ja nicht mitsingen und mitbeten, sondern schweigen.“

Wenn wir Sonntag für Sonntag gemeinsam das sogenannte „Sündenbekenntnis“ am Anfang sprechen und „Herr, erbarme dich“ singen, sollten wir uns anschließend nicht darüber aufregen, dass wir es in der Gemeinde tatsächlich mit lauter Sünderinnen und Sündern zu tun haben. Entweder wir fühlen uns zu dieser Gesellschaft dazugehörig oder wir bleiben draußen. Aber kommen und mitsingen und sich dann über die vielen Sünden und Fehler der anderen aufregen, ist absurd.

Jesus braucht verfügbare Menschen, keine perfekten

Wie viel mehr würden wir für Christus in dieser Welt ausrichten, wenn wir wüssten, dass unsere Fehler nicht nur bei Gott, sondern auch bei unseren Mitchristen auf Barmherzigkeit treffen! Jesus braucht keine perfekten Menschen, sondern Menschen, die verfügbar sind. Die ihre Schwächen und Abgründe nehmen und Jesus hinhalten und sagen: „Herr, erbarme dich – du weißt, dass ich dich liebe.“ Das sind tönerne Füße, zweifellos. Aber Jesus hat seine Gemeinde nie auf etwas anderes gebaut, weder hier noch anderswo.


Aus: Christoph Morgner (Hrsg.), Jesus Christus spricht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Johannes 6,37. Das Lesebuch zur Jahreslosung 2022.
Brunnen Verlag, Gießen 2021, www.brunnen-verlag.de.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Klaus Douglass

Dr. Klaus Douglass ist Pfarrer, Autor und Direktor von midi, der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung in Berlin.

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Ein Gedanke zu “„Hast Du mich lieb?“

  1. Danke für diese Gedanken. Klingt so einfach und ist doch so angefochten. Und so wichtig, sich darauf zu besinnen, wie Jesus Petrus begegnet ist. Sollten wir uns, sollten sich Gemeindeleitungen darüber hinwegsetzen können? Größer und mehr sein als der Meister? Dann mag uns die Jahreslosung herausfordern, uns zu besinnen. Manchmal zur Besinnung zu kommen und barmherzig zu sein, wie Christus barmherzig ist.
    Herr, erbarme dich. Aber auch bewahre mich davor, mich selbst zu überheben oder bitter zu werden wo ich geistlichen Missbrauch und Überheblichkeit sehe. Johannes der Täufer, den uns Henning Dobers vorstellte war in dem, was seine Berufung war und zugleich so, dass er wusste nicht mehr als der Meister zu sein und nicht der Meister zu sein. Wie sagte es Luther: wir sind Bettler, das ist wahr.

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