Am 7. Oktober jährt sich das Massaker der Hamas an Jüdinnen und Juden sowie der Beginn des Nahost-Kriegs zum zweiten Mal. Evan Thomas ist messianischer Jude und Pastor einer Gemeinde in Netanya, Israel. Er lässt uns heute, an Jom Kippur, an seiner ganz persönlichen Sicht auf geistliche und politische Fragen teilhaben. Ein Gespräch mit Eva Heuser.

Wie hat sich der Krieg in den letzten beiden Jahren auf Israel ausgewirkt? Und wie auf die Nachfolger Jesu im Land?
Er hat jeden getroffen – wir alle tragen ein gewisses Maß an Trauma mit uns herum, selbst diejenigen, die dem Krieg indirekter ausgesetzt sind und weder einen Mann noch ein Kind haben, das in den israelischen Streitkräften dient, noch in der Nähe der Gefahrenzonen leben. Die Menschen haben durch das Massaker am 7. Oktober und den Beginn des Krieges so viele Angehörige verloren, und später durch Raketenangriffe und Kämpfe an der Front, durch Terrorismus … Infolgedessen gibt es auf israelischer Seite ein enormes emotionales und spirituelles Trauma. Und dann gibt es natürlich enormes Leid und Trauma und die Verluste auf arabisch-palästinensischer Seite – das Thema hat kein Ende. Der einzige Unterschied für Nachfolger Christi besteht vielleicht darin, wie wir darauf reagieren.
Und wie reagiert ihr darauf?
Unser wichtigstes Werkzeug ist die Heilige Schrift: Wir müssen verstehen, dass es für das, was wir durchmachen, viele biblische Präzedenzfälle gibt. In unserer Region ist es Teil der biblischen Geschichte. Das hilft den Gemeinden, etwas zu begreifen, das so schockierend und verheerend ist. Ein weiteres wichtiges Instrument, das uns gegeben wurde, ist Gebet und Fürbitte. Wenn Gläubige sagen, wir seien machtlos und könnten nichts tun, dann ist das schlichtweg Unsinn. Der Leib Christi unter Juden und Arabern hier hat äußerst engagiert gebetet; und tatsächlich war es unsere Lage, die uns – oft gemeinsam – ins Gebet getrieben hat. Jeden Mittwochmorgen nehme ich per Zoom an einem Gebetsforum mit einer Gruppe palästinensischer, israelisch-arabischer und messianisch-jüdischer Gemeindeleiter teil, wo wir füreinander und für unsere Gemeinden beten. Das ist eine bereichernde, tiefe Erfahrung für uns. Es ist nur eines von vielen Foren – und manche sind viel größer. An Schemini Azeret, dem letzten Tag des Laubhüttenfestes [2025 am 13./14. Oktober, Anm. d. Red.], wird es im Zentrum des Landes eine große Versammlung geben, bei der wahrscheinlich Hunderte, wenn nicht mehr, messianische Juden und arabische Christen zum Gebet zusammenkommen und für die Rettung Israels, die Rettung unseres Volkes, beten.
Traumata und Verletzungen haben euch als Gläubige also ins Gebet getrieben – und ihr betet deutlich mehr?
Ja, absolut. Wenn alles friedlich ist und gedeiht, neigen wir dazu, fett und faul zu werden. Und die Geschichte beweist es uns: Dem Leib Christi geht es in Zeiten der Not besser. Ich denke, wir können daraus einige sehr wichtige Lektionen lernen, nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt.
Welche Lektionen sind das?
Zum Beispiel Lektionen über die Souveränität Gottes. Gott wird oft nur als liebender Wohltäter dargestellt und die Menschen vergessen den Gott, der das Böse hasst und äußerst motiviert ist, uns zu ihm zurückzuführen, wenn wir uns als Einzelpersonen, Gruppen oder sogar Nationen von ihm abwenden. Wenn wir uns aber von ihm abwenden, geschieht in der Regel eine Katastrophe. Ohne Zweifel war das in der biblischen Geschichte Israels immer wieder so. Ende 2023 widmeten wir uns der Lektüre der kleinen Propheten [Hosea bis Maleachi im Alten Testament, Anm. d. Red.], um zu versuchen zu verstehen, was geschehen war und warum. Eine der ersten geistlichen Lehren des Krieges war: Wenn wir uns von Gott abwenden, hat das Konsequenzen. Es ist wie ein Erziehungsding. Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Die Heilige Schrift ist voll davon – wähle diesen Weg und er führt zum Leben; wähle den anderen und er führt zum Tod [vgl. 5. Mose, Kap. 28]. Ich denke, das trifft sehr zu, besonders auf Israel. Eine weitere geistliche Lektion besteht darin zu verstehen, was wir von Gott her hören, und danach zu handeln. Der Apostel Paulus fragte in seinem Brief an die Römer: Hat Israel, hat das jüdische Volk Gottes Stimme gehört? Auf jeden Fall. Haben sie ihr gehorcht? Auf keinen Fall, außer dem Überrest, der von Gott bewahrt wurde, den sogenannten Auserwählten Israels. Nach unserem theologischen Verständnis führte Israels vorübergehende Herzensverhärtung gegenüber dem Messias dazu, dass die Menschen der anderen Nationen die Möglichkeit bekamen, Gottes Stimme zu hören und darauf zu reagieren. Dass die Heiden den jüdischen Messias annehmen, erlegt ihnen eine Verantwortung auf – nämlich, mein Volk, das jüdische Volk, Israel, eifersüchtig zu machen, dass sie sagen: Ich will auch, was sie haben [vgl. Römerbrief, Kap. 9-11]. Und so schmerzlich es für uns sein kann, Gott will unsere Aufmerksamkeit und unseren Gehorsam. Er möchte, dass wir reagieren und diesen wunderbaren Gott der Liebe und Gerechtigkeit erfahren, nach dem wir uns so sehnen.
Wie kann es sein, dass ganze Nationen zu Gott zurückkehren? Unsere moderne Sichtweise geht vielmehr davon aus, dass Nationen aus Millionen von Individuen mit freiem Willen bestehen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott mit den Nationen so umgeht, wie wir es in der Heiligen Schrift finden. Der christliche Glaube ist nicht nur individualistisch – es gibt heute Nationen auf der Welt, die biblische Prinzipien in ihren Verfassungen und Grundrechten hochhalten. Wir müssen uns einem Wertesystem wie in der Heiligen Schrift zuwenden und davon wird in der Bibel prophetisch gesprochen. Da steht, dass das kommen wird – und in diesem Bild spielt Israel tatsächlich eine wichtige Rolle. Im Buch Sacharja werden die Nationen aufgerufen, nach Israel zu kommen und die biblischen Feste Israels zu feiern. Das finde ich ironisch, denn gerade jetzt erleben wir, wie der Hass auf das jüdische Volk und den jüdischen Staat Fahrt aufnimmt, wie der Antisemitismus zunimmt. Kürzlich wurde ich gebeten mir Gedanken zu machen, inwiefern sich eine Entscheidung für Jesus von einer Entscheidung für Israel unterscheidet. Und als ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass beide Themen letztlich untrennbar miteinander verbunden sind. Vor einigen Jahren äußerte ein palästinensisch-christlicher Leiter auf einer großen Konferenz folgende ziemlich kontroverse Aussage: „Wenn wir uns dafür entscheiden, die Juden zu hassen, werden wir am Ende zwangsläufig auch Jesus hassen, und das wird für uns und für Nationen geistlich verheerend sein.“ Ich glaube, wir befinden uns gerade in einer solch traurigen Situation. Vielleicht ist diese Darstellung zu stark vereinfacht, aber so versuche ich es zu begreifen.
Ich habe von dem Phänomen gehört, dass Muslime regelmäßig eine Liebe zu den Juden, zu Israel, entwickeln, wenn sie sich Jesus zuwenden.
Ja, an Jesus Gläubige mit muslimischem Hintergrund, ob es nun Araber, Iraner sind oder woher auch immer sie kommen, entwickeln ironischerweise eine unglaubliche Liebe zu Israel und dem jüdischen Volk. Ich habe das schon so oft erlebt und das ist sehr außergewöhnlich.
Wofür betet ihr gerade ganz konkret?
Die bevorstehenden hohen Feiertage [Laubhüttenfest, 6.-13. Oktober] sind zur eigenen Besinnung bestimmt, aber auch zum Gebet für die Errettung des Landes. Das ist ein traditioneller Bestandteil der jüdischen Liturgie. Auf einer ganz anderen Ebene sind wir uns aber bewusst, dass die Unterzeichnung eines Friedensabkommens in diesen Tagen so wahrscheinlich ist wie nie; das könnte die Feindseligkeiten im Gazastreifen und hoffentlich auch im Westjordanland beenden und der ganze Prozess des Wiederaufbaus, des Abzugs der israelischen Truppen und der Entwaffnung der Hamas könnte beginnen. Die Menschen auf beiden Seiten könnten in ihre Häuser zurückkehren und anfangen, ihr Leben wieder aufzubauen. Das sind sehr große Bereiche, für die wir beten. Natürlich ist alles mit sehr komplexen Fragen beladen. Und eine palästinensische Hoffnung für die Zukunft wird im Rahmen dieser politischen Friedensgespräche wenig oder gar nicht thematisiert.
Du sprichst von der Gründung eines palästinensischen Staates.
Genau. Über ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft, Gerechtigkeit für sie … über diese Dinge wird gar nicht gesprochen. Auf israelisch-jüdischer Seite ist uns neben der Befreiung unserer Geiseln, der Heimkehr unserer Männer vom Schlachtfeld und der Wiederherstellung des Friedens wohl auch der Umbau unserer Regierung und unseres politischen Systems sehr wichtig. Viele Israelis haben das schon lange vor Kriegsbeginn gefordert. Im Moment herrscht eine Atmosphäre positiver Erwartung, auf der anderen Seite aber auch die Angst, dass diese Chance sabotiert wird. Aber ich fühle auch tief mit meinen palästinensischen und arabischen Freunden, die sich sicher in gewisser Weise über die Aussicht auf ein Ende der Feindseligkeiten freuen, gleichzeitig aber keine Aussicht haben, dass sich ihre Träume von einem palästinensischen Staat in naher Zukunft erfüllen. Ihre Lage ist im Moment so katastrophal, so furchtbar.
Was halten die an Jesus Gläubigen in Israel im Allgemeinen von einem palästinensischen Staat? Dass dieser nicht Bestandteil der aktuellen Friedensgespräche ist, war sicher entscheidend für die Zustimmung von Premierminister Benjamin Netanjahu. Manche denken sogar, ein palästinensischer Staat könnte dafür sorgen, dass der Terror ein Nachbar bleibt.
Die Mehrheit der jüdischen Jesus-Anhänger ist nicht für eine Zweistaatenlösung und die Anerkennung eines palästinensischen Staates. Ich denke, dass dem hauptsächlich Angst zugrunde liegt, teilweise aber auch eine bestimmte Theologie, nach der das Land nicht geteilt werden sollte. Insbesondere die Generation der Millennials sieht die Dinge oft ganz anders, auch theologisch. Sie tendieren im positiven Sinne zu einer viel „humanistischeren“ Perspektive. Warum sollten wir den Palästinensern nicht ihre Würde geben? Es gibt sogar ein stichhaltiges gesellschaftliches Argument: Wenn man Menschen Freiheit und Möglichkeiten bietet, stehen die Chancen gut, dass sie positiv darauf reagieren. Das könnte voraussichtlich viel dazu beitragen, die Feindschaft zwischen unseren Völkern abzubauen. Das ist ein stichhaltiges Argument und muss untersucht werden.
Was denkst du persönlich?
Ich würde ein „Ein-Staaten-Argument“ sicherlich nicht allein auf eine alttestamentliche theologische Position stützen. Man muss diese Dinge mit einem reformierten Blick betrachten. Gibt es Gefahren? Ja. Stellt man sich Menschen weiterhin entgegen und unterdrückt sie, werden sie einen dafür hassen und gefährlich sein. Nimmt man andererseits eine liberalere Sichtweise ein und eröffnet Chancen, wird es Menschen geben, die das ausnutzen und einen trotzdem in Gefahr bringen. Die Frage ist: Was würde Jesus tun? Ich neige dazu, auf die Seligpreisungen in Matthäus 5 zu schauen und die Werte in den Blick zu nehmen, die für das Reich Gottes gelten. Man könnte das zum Beispiel sogar anwenden, um sich politisch zugunsten einer Einstaatenlösung zu positionieren – allerdings eine, bei der man als Souverän die Verantwortung hätte, den regierten Völkern Gerechtigkeit, Chancen und Frieden zu bringen.
Genau das hat eigentlich schon das Alte Testament nahegelegt.
Und zunächst einmal gilt das schon immer für das jüdische Volk. Es mag nicht „gerecht“ sein, aber es gilt ganz sicher für unser Verhalten und unseren Umgang mit dem „Fremden“ in unserer Mitte. Das spiegelt wider, wie ich empfinde: Ich glaube, dass wir als Nachfolger Jesu eine enorme Verantwortung gegenüber anderen tragen. Ob es nun die Witwen und Waisen in unserer Mitte sind, an deren Behandlung sich für uns die Wahrhaftigkeit unserer Religion festmacht, oder ob es die „Fremden“ in unserer Mitte sind, die wir aufnehmen, gut regieren und allen ein gutes Leben ermöglichen. Ich persönlich denke, dass das mehr ist als eine bloß ideologische Position. Das kann durchaus geschehen. Ich würde sogar sagen, es gibt Hinweise darauf, dass es bereits geschieht. Nur eben nicht schnell genug.
Was sollten wir in Deutschland jetzt für Israel beten?
Ich denke, die Kirche insbesondere in Deutschland hat die Verantwortung, Position zu beziehen und gegen die Ausbreitung von Antisemitismus zu beten. Für die Menschen in Deutschland ist es greifbar; wozu das führen kann, wissen sie aus erster Hand. Zweitens: Wenn wir nach den verheerenden Folgen des Krieges Wiederaufbau sehen wollen, müssen wir für beide Völker beten – das jüdische wie das palästinensische. Sollten wir aufgrund einer theologischen oder politischen Position, an der wir festhalten, einseitig Partei ergreifen, sind wir am Ende Teil des Problems, nicht der Lösung. Jesus hat uns aufgefordert, Friedensstifter zu sein. Es gibt also eine dritte Möglichkeit: nämlich eine Position einzunehmen, die sich an den Werten des Reiches Gottes ausrichtet. Dann entscheiden wir uns, beide Seiten zu lieben, zu unterstützen, für sie zu beten und uns für sie einzusetzen. Gott weiß, dass es auf beiden Seiten viel zu kritisieren gibt, einschließlich unserer Regierungspolitik in Israel und sozialer Probleme … Und das ist in Ordnung. Denn wenn wir lieben, geht damit manchmal auch die Verantwortung einher, Kritik zu üben. Zu sagen: „Hey, das ist nicht richtig, dem stellen wir uns entgegen“ – und zu beten. Wenn unsere Militärpolitik zum Beispiel in einem Teil von Rache motiviert ist – und an jedem Kriegsschauplatz gibt es diese Motivation –, dann ist das kein Wert des Königreichs Gottes. Das ist kein göttlicher Wert, weder im Alten noch im Neuen Testament. Wir sollten beten, dass es aufhört.
Es war also gar nicht verkehrt, was unseren Bundeskanzler Friedrich Merz zuletzt motiviert hat? Bei der Wiedereröffnung der Synagoge in der Reichenbachstraße in München bewegte ihn der Holocaust zu Tränen. Hast du das gesehen?
Ja, habe ich.
Auf der anderen Seite schränkte er die Lieferung weiterer militärischer Geräte an Israel aufgrund der Offensive in Gaza-Stadt ein.
Genau darauf will ich hinaus. Er ist Chef einer Regierung, aber als Nachfolger des Herrn können wir im gleichen Sinn, in der gleichen Richtung beten. Ich war stolz auf ihn, ich fand es großartig.
Danke, Evan, dass du uns an deiner Perspektive hast teilhaben lassen.
Mitbeten bei der Gebetsnacht gegen Antisemitismus am 6. Oktober 2025
Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir einen massiven Anstieg antisemitischer Parolen und Angriffe in Deutschland und weltweit. Wir laden euch ein, am Montag, 6. Oktober, von 18 bis 24 Uhr via Livestream bei einer deutschlandweiten Gebetsnacht mitzubeten.
Wir als GGE sind im Trägerkreis dabei. Fachleute geben kurze Impulse zu verschiedenen Themen, an die sich jeweils das gemeinsame Gebet anschließt. Teilnehmen könnt ihr nach Anmeldung (im Anschluss wird euch der Link zum Livestream per E-Mail geschickt). Alle Infos zu Ablauf und Anmeldung hier.