David Brunner ist Pfarrer. Er liebt Jesus und er liebt seine Kirche – obwohl seine Beziehung zu ihr sehr gelitten hat. Auch heute bräuchte die EKD wieder einen „Martin Luther“, der sie komplett auf den Kopf stellt! Ein leidenschaftlicher, ungeschminkter Brief (passend zum Reformationstag).
Liebe Kirche,
seit ich denken kann, bist du Teil meines Lebens. Aber ich muss dir sagen: unser Verhältnis hat sehr gelitten in den letzten Jahren und ich wünsche mir, dass du mir zuhörst, wenn ich dir sage, warum das so ist.
Als kleiner Steppke habe ich die Jungschar besucht, später die Jungenschaft und den Jugendkreis. Im Jugendalter begann ich, Verantwortung zu übernehmen und leitete Jungschar, Jugendkreis, Freizeiten und vieles mehr. Sagen wir mal so: Ich habe ‘ne Menge in unsere Beziehung investiert.
Sehr regelmäßig bin ich sonntags zu dir in den Gottesdienst gegangen – aber heute kann ich’s dir ja sagen: Weniger wegen dir, sondern vielmehr wegen der anderen Freunde. In guten Zeiten haben wir zwei Bankreihen belegt – immer die gleichen, „das war halt schon immer so“. Übrigens ein Satz, den ich nur aus unserer Beziehung kenne, der mir aber tierisch auf die Nerven geht.
Nach dem Abitur folgte das Theologiestudium, über das ich seitenweise schreiben könnte, aber nur so viel: Wenn du meinst, dass diese Art der Ausbildung zukünftiger Pfarrer der Weisheit letzter Schluss ist, dann glaube ich, dass du damit falsch liegst. Ich habe es als ziemlich weltfremd, teilweise sehr glaubenshemmend und ziemlich „churchy” (das ist übrigens kein Kompliment sondern eine Zustandsbeschreibung, wie ich sie vornehme, wenn ich zum Ausdruck bringe, dass etwas Kirchliches ziemlich alltagsfremd daherkommt) erlebt. Ich habe das Geüfhl, dass es hauptsächlich darum geht, das eigene System aufrecht zu erhalten und Nachwuchs heranzuziehen, der brav den Talar mit Beffchen anzieht (wieso eigentlich?), die liturgische Sprache einübt (ob’s die Menschen verstehen oder nicht) und wirklich beginnt zu meinen, Orgelmusik wäre etwas Geiles, obwohl kaum ein Mensch das heute noch hört. Die letzte Charts-Platzierung klassischer Kirchenmusik ist irgendwie an mir vorbeigegangen.
Du denkst vielleicht: „Lass dir mal was Neues einfallen!” Ja stimmt. Das kritisiere ich schon eine ganze Weile und es ist nicht neu – aber du änderst dich ja so gut wie nicht, weswegen ich es auch immer wieder sagen muss. Oder was tust du, dass die Kirchengebäude sonntags voller statt leerer werden?
Du änderst dich ja so gut wie nicht … Oder was tust du, dass die Kirchengebäude sonntags voller statt leerer werden?
Inzwischen habe ich einige Gemeinden kennengelernt durch das Vikariat, den Probedienst und zwei Pfarrstellen und ich muss sagen: Ich bin schwer enttäuscht von dir, liebe Kirche. Nicht von den Menschen vor Ort, nein! Nicht von den Gemeinden vor Ort, nein! Sondern von dir als Institution, als Dachverband, als Landeskirche – nenne es, wie du möchtest.
Kritik, die geäußert wird, verhallt. Die Basis wird so gut wie gar nicht wahrgenommen. Innovative Gemeinden und Konzepte werden hier und da unterstützt – das ist großartig, ja! Aber das Problem ist doch: Das ist nur ein kleiner, verschwindend geringer Anteil. Der große Rest läuft im Mainstream tapfer weiter Richtung … Untergang? Darf ich das so drastisch mal formulieren?
Immer noch hältst du an Formen fest, die heutzutage kaum einen Menschen interessieren. Predigten und Messen (ups, jetzt meine ich auch mal deine Schwester) sind teilweise so realitätsfern, wie mir Menschen immer und immer wieder bescheinigen, dass ich mich inzwischen schon gar nicht mehr freue, wenn Menschen bei uns sagen: „Wow, ihr seid so ganz normal; so anders; so nah am Menschen!” Ich bin vielmehr traurig darüber, dass das scheinbar die Ausnahme ist.
Liebe Kirche,
weißt du, was ich dir wünsche? Mut! Einfach mal ‘ne Menge Mut!
Mut, die Dinge anders zu machen als bisher.
Mut, der einsieht, dass es so nicht weitergehen kann.
Mut, der bereit ist, auch mal über den eigenen Schatten zu springen und zu lernen von denen, gegenüber denen du dich meist ein wenig herablassend äußerst – du nennst sie oft „die Frommen” oder „die Evangelikalen” oder „die Freikirchen” – aber hey, meine Liebe: Die beißen allesamt nicht. Die sind echt supernett!
Ich wünsche dir Mut, der die nötigen Schritte geht, damit wieder Menschen das Evangelium in der „Volkskirche” hören und nicht in Freikirchen abwandern müssen – ich kann diese Menschen so gut verstehen! Wirklich! Und ich freue mich, wenn Freikirchen wachsen – aber nun bin ich mal Pfarrer der Landeskirche und deswegen ist es doch vollkommen logisch, dass ich möchte, dass auch dieser Zweig deines Daseins wächst, blüht und gedeiht.
Ich wünsche dir einen Mut, der dich mal „out of the box” denken lässt – und du wieder zurück findest zur Mitte deines Seins: Jesus Christus!
Ich wünsche dir einen Mut, der dich mal „out of the box” denken lässt – und du wieder zurück findest zur Mitte deines Seins: Jesus Christus! Hör bitte endlich auf, dich mit Randthemen zu beschäftigen, sondern komme dem nach, was Jesus als Vermächtnis auf dieser Erde zurückgelassen hat, ehe er in den Himmel zu seinem Vater ging: „Macht alle Menschen zu Nachfolgern von mir!” (Matthäusevangelium, Kapitel 28).
Er sagte nicht: „Führt den Grünen Gockel ein!” Auch sagte er nicht: „Werdet zu Greenpeace mit Handauflegen” (wie es Jan Fleischhauer einmal sagte). Ebensowenig hat er gesagt: „Aktuelle politische Diskussionen und Themen sollen auch in der Verkündigung der Kirche im Zentrum stehen!” Hat er alles nicht gesagt – wieso tust du das nur viel eifriger, als den Menschen zu sagen: „Es gibt einen Gott , der dich liebt und sich so sehr nach dir sehnt, dass sein Sohn stellvertretend für dich starb, damit der Zugang zu ihm frei ist. Denn er alleine trägt in den Höhen und Tiefen des Lebens. Jesus alleine. Sonst niemand und nichts.” Glaubst du es denn etwa nicht mehr, dass alleine Jesus den Menschen rettet? Dann könnte ich ja verstehen, dass die anderen Themen wichtiger sind, denn dann ist es in der Tat vollkommen egal, was du verkündigst.
Und ich wünsche dir Mut, in der aktuellen Corona-Pandemie deinen Gemeinden nicht noch mehr Hindernisse und Bürden aufzuerlegen, als sie ohnehin schon tragen müssen. Angst war noch nie ein guter Ratgeber – also hör auf, ängstlich zu sein!
Ach, liebe Kirche, du bist so schön, so stark, so lebendig, weil Jesus dein Boss und oberster Meister ist, wie es in diesem Buch namens Bibel heißt. Verstehst du nicht, dass du dich hässlicher, schwächer und weniger lebendig machst, wenn du ihn aus der Mitte verdrängst? Oder anders gesagt: Ohne Jesus im Zentrum bist du weit weniger attraktiv für Menschen! Das klingt paradox, ich weiß. Aber Menschen suchen doch nach etwas, das wirklich Halt gibt, ein Fundament, das wirklich trägt und Sinn gibt – du musst nicht die ganzen Mainstream-Zeitgeist-Floskeln wiederholen, denn du hast die Antwort in dir, die wirklich die einzig gute und hilfreiche Antwort ist.
Ich wünsche dir so sehr, dass die Hauptsache wieder die Hauptsache wird, dann regeln sich auch ein paar Nebensächlichkeiten. Dazu brauchst du Mut, ich weiß.
Liebe Kirche, du bist so schön, so stark, so lebendig, weil Jesus dein Boss und oberster Meister ist. Verstehst du nicht, dass du dich hässlicher, schwächer und weniger lebendig machst, wenn du ihn aus der Mitte verdrängst?
Liebe Kirche, ich will dir gerne helfen. Ich habe dir diesen Brief nicht geschrieben, weil ich einfach nur mal was loswerden wollte. Ich wollte dir sagen: Es geht auch anders! Schau mal über deinen Horizont hinweg in so vielen Regionen dieser Erde gibt es dich und du wächst, gedeihst, führst Menschen zum Glauben an Jesus. Wenn du genauer hinschaust, wirst du erkennen, dass das bei weitem und mit großem Abstand dort geschieht, wo es sich um so genannte „Freikirchen” handelt und dort, wo Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Es ist in den seltenen Fällen die Staatskirche.
Ich frage dich: Willst du wieder Volkskirche werden und „dem Volk auf’s Maul schauen”? Ich fände das großartig. Wenn nicht jetzt – wann dann benötigen die Menschen Hoffnung, Zuversicht und einen Halt, der im Leben und Sterben trägt?
Du alleine hast ihn als Schatz in deiner Hand – und verpasst es so oft durch dein Auftreten, deine Sprache, deine Formen, diesen Schatz an Mann und Frau zu bringen. Du schaffst noch nicht mal die 5 %-Hürde (deiner Mitglieder), was den Gottesdienstbesuch betrifft, meinst aber, dich in politische Diskussionen und gesellschaftliche Probleme einmischen zu müssen – unbedingt! Nur merkst du nicht, dass das wenig glaubhaft ist, wenn dir 95 % deiner eigenen Mitglieder gar nicht zuhören wollen?
Liebe Kirche, es gibt keine Gemeinschaft, keine Ansammlung von Menschen, keinen „Verein”, der so viel Kraft in sich trägt wie du – weil Jesus sie dir gibt. Wann setzt du sie endlich wieder frei? Wann nimmst du dir mal die Zeit, setzt sich hin und sagst ehrlich: So geht’s nicht weiter! Es muss sich grundsätzlich etwas ändern!
Ich glaube, Martin Luther würde dir heute auch gut tun!
Vor gut 500 Jahren hat ein „kleines, versoffenes Mönchlein”, wie er von seinen Gegnern genannt wurde, diese Welt und die Kirche auf den Kopf gestellt – Martin Luther. Ich glaube, der würde dir heute auch gut tun! Einer, der darauf geschaut hat, dass der oben angesprochene Schatz wirklich bei den Menschen ankommt. Er hat Wert darauf gelegt, dass Kirche in zeitgemäßen Formen sich auf den Weg zu den Menschen macht. Und was machst du? Du meinst, dass die Formen aus Luthers Zeiten auch heute noch zeitgemäß wären. Ich hoffe, du erkennst eines Tages, dass Luther gar nicht gewollt hätte, dass seine Lieder heute noch gesungen werden sondern dass er sich gewünscht hätte, zeitgemäße Ausdrucksformen zu finden. Der Versuch, die Reformation zu konservieren ist gescheitert! Es muss sich etwas ändern – und zwar von Grund auf.
Oh wie gerne würde ich das noch erleben, wie gerne würde ich Teil dieses Prozesses sein, wie gerne würde ich meine Kraft hineingeben in diesen Prozess, wenn er beginnt. Sagst du mir Bescheid, wenn’s losgeht?
Ich habe im Kleinen bei mir vor Ort, dort wo ich bin, schon begonnen damit. Und ich habe dort, wo ich bin, eine Ausdrucksform deiner selbst (also eine Kirchengemeinde) vorgefunden, die diesen Weg, diesen Prozess schon seit Jahrzehnten geht. Ich mach einfach nur weiter – ich habe das Rad nicht neu erfunden. Aber ich werde es mir nicht nehmen lassen, „dem Volk auf’s Maul zu schauen” – und nicht deine gut gemeinten Ratschläge, Verlautbarungen und Gottesdienstformulare meiner Arbeit zu Grunde zu legen, denn das wird nicht viel bringen. Ich versuche es, ich stolpere, ich scheitere. Ich trage Wunden und Verletzungen davon, liebe Kirche! Manches von dem, was ich mache, ist nicht gut. Manches von dem, was ich mache, muss auch wieder „rückgängig gemacht werden”. Ich bin einfach nur fehlerhaft, alles andere als perfekt und mache eine Menge Fehler (und manchmal lerne ich sogar aus ihnen). Mich treibt einfach nur diese unbändige Sehnsucht um, dass Menschen Jesus begegnen.
Ich will eines Tages nicht zurückblicken und sagen: „Super, David, du hast dich dem kirchlichen Mainstream angepasst und keinen Ärger gemacht.” Ich will zurückblicken und hoffen, dass mein Dienst davon geprägt ist, dass Menschen Jesus kennenlernen und ihm nachfolgen.
Ich habe vorhin viel von Mut gesprochen. Corrie ten Boom sagte einmal: „Mut ist Angst, die gebetet hat!” Angst scheinst du jede Menge zu haben (genauso wie ich auch) – was glaubst du, wie viel Mut daraus werden könnte, wenn du es nur zulässt? Unfassbar viel, unfassbar Großes, unfassbar Schönes kann daraus erwachsen.
Liebe Kirche, du hast mich nun fast 43 Jahre meines Lebens begleitet – und ich wünsche mir, dass es noch viele Jahre werden. Versichern kann ich es dir nicht, aber ich will meinen Teil dazu beitragen, dass die Beziehung bleibt – du auch?
Liebe Grüße,
Dein David
Der Text erschien zuerst am 5. Juli 2021 auf David Brunners Blog.
Für die Erlaubnis, ihn hier noch einmal zu veröffentlichen, sagen wir herzlich Danke!
Dazu passt „Nein zur Entmutigung“ von Johannes Hartl
https://m.youtube.com/watch?v=7pUQ487_yKc