Missbrauch: Heilung ist ein langer Weg

Nach der jüngsten Missbrauchsstudie ist auch die evangelische Landschaft erschüttert. Wie Gemeinden zu einem sichereren Ort werden und welche Schritte zur Aufarbeitung gehören, erklären Seelsorgerin Ursula Schmidt und Traumatherapeutin Elke Hieckmann   

Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche: Nachdem die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im November 2023 im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfall von allen Ämtern zurückgetreten ist, hat im Januar 2024 die ForuM-Studie hohe Wellen geschlagen. Dass das Problem auch in der evangelischen Kirche größer ist als gedacht, ist ein Ergebnis des Forschungsverbunds mit dem sperrigen Namen „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“.

Was sagen erfahrene Seelsorger aus Sicht der Betroffenen? Die Theologin und Seelsorgerin Ursula Schmidt (Fürth) und die Traumatherapeutin Elke Hieckmann (Hirschaid) haben im ersten Teil unserer Reihe über Ursachen und Folgen gesprochen. Im zweiten und letzten Teil fragen sie, welche Konsequenzen sich für Kirchen und Gemeinden ergeben und wie eine Gemeindekultur geschaffen werden kann, die sexualisierte Gewalt möglichst weit verhindert.

Wie wir Gemeinden bauen, die sicher sind

Die GGE versteht sich als Gemeindebewegung. Angesichts der erschreckenden Berichte über Missbrauch im gemeindlichen und kirchlichen Kontext fragen wir, wie Gemeinden beschaffen sein müssen, damit sich Kinder, Jugendliche, verletzte Menschen und Schwache in jeder Hinsicht und vor jedem Übergriff sicher entfalten können.

  1. Mit einem Konzept zur Prävention: Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt sind inzwischen gewissermaßen Pflicht. Das Weiße Kreuz hilft Gemeinden bei der Formulierung und Umsetzung solcher Konzepte. Aber es nützt nichts, wenn diese Dinge nur auf dem Papier stehen. Die Konzepte müssen in der Beziehungskultur, der Lehre und der Praxis der Gemeinde verankert werden.
  2. Im Bewusstsein unser aller Verletzlichkeit: In einer gesunden Gemeindekultur wird Gemeinde verstanden und gelebt als eine Gemeinschaft von mehr oder weniger (aber allesamt!) Verletzten und in Heilung Begriffenen, die miteinander auf dem Weg sind. Übergriffe und sexualisierte Gewalt gehen selten von Menschen aus, die seelisch stabil und innerlich gefestigt sind. Wer für die Wunden seiner Lebensgeschichte tiefgreifende Heilung erfahren hat oder sich schnell Hilfe sucht, wenn alte Narben wieder schmerzen, steht weniger in der Gefahr, seine Macht über andere in irgendeiner Weise zu missbrauchen.
  3. Ohne schädliche Tabuzonen: Wenn Erwachsene ihre eigene Verletzlichkeit eingestehen und Grenzverletzungen, die sie erlebt haben, nicht leugnen müssen, wenn sie über den Schmerz unerfüllter Bedürfnisse reden können, dann kommt das Thema aus der Tabuzone. Man kann darüber sprechen, was an Nähe guttut, welche Grenzen gesund sind. Man findet Kommunikationswege und Worte, um schon über allererste Anzeichen von geistlicher, seelischer oder sexueller Manipulation zu sprechen. Dann kann Korrektur geschehen, ehe Schlimmes passiert. Dann finden auch Kinder, Jugendliche oder im Machtgefüge Schwächere ein offenes Ohr für ihr Erschrecken über Übergriffe und werden in Schutz genommen. Über Sexualität muss offen und zugleich sensibel gelehrt werden, sodass gute Grenzen aufgezeigt werden. Eine Hilfe für Jugendliche findet sich beispielsweise auf dem Instagram-Kanal „Holy Fuck“ des Weißen Kreuzes.
  4. Mit einer ausgewogenen Lehre zum Heiligen Geist: Für uns als Gemeinden, die besonders das Werk des Heiligen Geistes schätzen, ist es daher wichtig, nicht nur seine Kraft zu betonen, die Vollmacht, das manchmal Überwältigende seiner Gegenwart. Zu seinem Werk gehört ebenso das Trösten, die innere Heilung und das Schwach-sein-Dürfen, auf dem eine besondere Verheißung liegt. Keiner muss unter dem Druck stehen, dass er heiler, besser, vollmächtiger sein müsste als der andere.
  5. Indem wir Leitende nicht überhöhen: Leitung und Autorität muss hinterfragbar bleiben, gerade angesichts der Fehlbarkeit, die wir alle teilen. Kein Gemeindeglied und kein Amtsträger darf unantastbar sein und sich Fragen und Kritik von vornherein entziehen dürfen.
  6. Indem wir Kinder achten: In einer Gemeinde der Verletzten, die miteinander auf dem Weg sind, werden Kinder in ihrer Würde geachtet. Sie sind Menschen mit eigenen, gültigen Bedürfnissen. Sie werden in ihrem jeweiligen Entwicklungsstand angenommen und geschützt.

Wie wir Wege zur Heilung gehen

Wenn in einer Gemeinde oder Gruppe dann doch sexuelle Gewalt ausgeübt wurde, dann geht nicht nur der oder die Betroffene einen Heilungsweg, sondern auch die ganze Gemeinschaft. Für die Gemeinschaft ist vor allem Aufarbeitung dran: Wie konnte das geschehen? Wieso haben wir nicht genauer hingeschaut? Welche Strukturen und Haltungen unter uns haben die Taten begünstigt? Wo genau wären wir verantwortlich gewesen, haben diese Verantwortung aber nicht wahrgenommen? Was müssen wir ändern?

Auf das Erschrecken folgt in christlichen Gemeinschaften die Bitte um Vergebung meist auf den Fuß. Aber diese Bitte kann erst nach einem ausführlichen Aufarbeitungsprozess verantwortlich geäußert werden.

1. Die eigene Schuld anerkennen: Zuerst muss die eigene Schuld umfassend anerkannt werden. „Das habe ich / das haben wir gemacht oder unterlassen. Es wäre unsere Verantwortung gewesen. Es hatte schreckliche Folgen, dass wir diese Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Das war falsch!“

2. Auf Worte Taten folgen lassen: Die Reue und Umkehr muss konkrete Auswirkungen haben. Sie muss sichtbar werden, in sinnvolle Taten münden und der Betroffene muss dabei mit seinen Bedürfnissen einbezogen und ernstgenommen werden: zum Beispiel, indem der Täter aus der Gemeinde entfernt wird, indem eine längere Therapie für den Betroffenen finanziert wird und Ähnliches.

3. Um Vergebung bitten: Erst wenn das geschehen ist, kann eineBitte um Vergebung gegenüber dem Betroffenen ausgesprochen werden – immer im Bewusstsein, dass weder der Täter noch die Gemeinschaft, die nicht ausreichend geschützt hat, ein Anrecht auf diese Vergebung hat. Wenn ein Betroffener vergeben kann, ist es immer ein Wunder und ein unverfügbares Geschenk! Nie darf die Bitte um Vergebung instrumentalisiert werden, um Versöhnung zu erzwingen oder ein Schweigen zu „erkaufen“. Vergebung braucht viel Zeit.

4. Die Klage aushalten, den Weg akzeptieren: Betroffene dürfen Vorwürfe machen, anklagen und den Schmerz äußern und sollen auch gehört werden. Der Heilige Geist hält es aus, dass Heilung ein Weg ist. Wir als Gemeinden sollten das auch aushalten! Ein echter Heilungsprozess, der diesen Namen verdient, geschieht von innen heraus. Wer möglichst schnell zunähen will, begünstigt nur, dass sich Eiter sammelt. Eine tiefe Wunde heilt aber von innen nach außen, nicht umgekehrt.


Die GGE App

Diesen und viele weitere Artikel findest du auch in der GGE App. Lade sie dir jetzt auf dein Mobilgerät bei Google Play oder im Apple App Store

Ursula Schmidt

Ursula Schmidt ist ev. Pfarrerin und seit 20 Jahren in der Leitung freier Gemeinden, als Autorin, Seminarsprecherin, Seelsorgerin und Traumafachberaterin unterwegs. Mit ihrem Mann Manfred lehrt sie u.a. im Rahmen des Axis-Bibelstudiums und zum „Hörenden Gebet".

Alle Beiträge ansehen von Ursula Schmidt →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent mit Real Cookie Banner