Missbrauch: Kirche muss Grenze von Loyalität und Nähe vermitteln

Die jüngste Missbrauchsstudie erschüttert nun die evangelische Kirche. Seelsorgerin Ursula Schmidt und Traumatherapeutin Elke Hieckmann zu Ursachen und Folgen für Betroffene.   

Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche: Nachdem die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im November 2023 im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfall von allen Ämtern zurückgetreten ist, hat im Januar 2024 die ForuM-Studie hohe Wellen geschlagen. Dass das Problem auch in der evangelischen Kirche größer ist als gedacht, ist ein Ergebnis des Forschungsverbunds mit dem sperrigen Namen „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“.

Was sagen erfahrene Seelsorger aus Sicht der Betroffenen? Die Theologin und Seelsorgerin Ursula Schmidt (Fürth) und die Traumatherapeutin Elke Hieckmann (Hirschaid) sprechen im ersten Teil unserer zweiteiligen Reihe über Ursachen und Folgen. Im zweiten Teil (erscheint am 21. März) betrachten sie, welche Konsequenzen sich für Kirchen und Gemeinden ergeben und wie eine Gemeindekultur geschaffen werden kann, die sexualisierte Gewalt möglichst weit verhindert.

Was Missbrauch in der Kirche fördert

Seit die EKD-Studie zum Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlicht wurde, geht eine Welle der Betroffenheit durch die Gemeinden. Konnte man bisher mit Empörung und moralischer Verurteilung auf die katholische Kirche zeigen, ist das Thema nun sehr nahegekommen. Die Studie stellt heraus, dass gerade eine gewisse Überheblichkeit in Bezug auf die vermeintliche eigene „partizipative, hierarchiearme und progressive“ Kirchenkultur behindert, dass missbräuchliches Verhalten im kirchlichen Umfeld wahrgenommen wird.

Tatsächlich aber haben Betroffene erlebt, dass vorhandene Machtstrukturen (Geistlicher –„Laie“ wie auch Kirchenleitung – Gemeinden) immer wieder dazu benutzt wurden, sexualisierte Gewalt zu vertuschen bis hin zu rechtfertigen. Dort, wo in Gemeinden Leitung als spezieller Auftrag Gottes verstanden wird, der mit einer besonderen Vollmacht und damit einer besonderen Position im Beziehungsgefüge der Gemeinde einhergeht, ist der Schritt nicht weit, Vorwürfe und Anklagen von Opfern als „Rebellion“, als „Verleumdung“, als „schlechtes Reden“ und damit als „ungeistlich“ zu brandmarken.

Die Schuld und Beschämung bleibt zu oft bei den Opfern; von ihnen wird Vergebungsbereitschaft erwartet. Sie sollen mit „konstruktivem“ oder „gottgefälligem“ Verhalten, das heißt also: schweigen und den Ruf des Täters, seine Karriere, seine Familie und den Ruf der Kirche oder Gemeinde schützen, während sie selbst ungeschützt bleiben.

So zeigt sich also: Je hierarchischer eine Gemeinde- und Kirchenstruktur ist und je mehr dem Geistlichen, dem Leiter eine „göttlich“ herausgehobene Position zugesprochen wird, desto größer ist die Gefahr, dass es geduldet wird, wenn er sich ein unangemessenes Verhalten herausnimmt. Er ist ja der „Gesalbte Gottes“, der bevollmächtigte Leiter, dem Gehorsam und Loyalität gebührt und der nicht kritisiert werden darf. Dasselbe gilt für Freikirchen und christliche Werke. Nur so können Vorwürfe sexuellen Missbrauchs teils jahrzehntelang im Verborgenen bleiben (wie unlängst im Fall des US-amerikanischen Pastors Mike Bickle, Anm. d. Red).

Andererseits ist auch der Anspruch, dass es in der Gemeinde besonders liebevoll, persönlich, nahe, verständnisvoll zugehen soll, ein ambivalenter Wert. Die Nähe und Beziehungsorientiertheit kann für Menschen in unserer von Einsamkeit und Vereinzelung geprägten Gesellschaft etwas zutiefst Heilendes sein. Wenn aber nicht auch die gesunden Grenzen von Nähe betont werden und es nicht vollkommen akzeptiert ist, sich zu distanzieren und selbst zu prüfen, welche Nähe guttut oder nicht, dann kann eine unheilsame psychische oder emotionale Abhängigkeit entstehen. Diese wiederum macht Menschen für Missbrauch anfällig und gibt Tätern die Möglichkeit , persönliche Grenzen zu überschreiten.

Welche Folgen Missbrauch für Betroffene hat

Menschen, die sexuellen Missbrauch im kirchlichen Umfeld erfahren haben, leiden unter tiefgreifenden Folgen. Sie zeigen in der Regel Symptome posttraumatischer Belastung, die das weitere Leben massiv beeinträchtigen: Sie werden immer wieder von schlimmen Gefühlen, Erinnerungen und Flashbacks überflutet. Sie leiden unter Selbstvorwürfen und Selbstabwertung, unter innerem Dauerstress mit häufigen psychosomatischen Folgen. Sie ziehen sich aus Beziehungen zurück und aus Gemeinden, weil sie über das Erfahrene nicht reden können oder dürfen. Und wenn sie es doch tun, ernten sie Unglauben und Unverständnis oder werden selbst beschuldigt.

Zeit heilt keine Wunden. Für die Bewältigung solcher Missbrauchserfahrungen braucht es meist gute, langjährige Traumatherapie. Die ist schwer zu bekommen, weil es nicht genügend geeignete Therapeuten gibt. (Eine Alternative wären freie Therapeuten, die dann aber selbst zu bezahlen sind.) So bleiben viele Betroffene ohne Hilfe, manchmal lebenslang. Für sie ist nicht nur das eigene Lebensgefühl schwer beschädigt, sondern auch ihr Gottesbild und ihr Glaube. Wenn die Liebe Gottes für Missbrauchstaten in Anspruch genommen wird („Gott hat mich beauftragt, dir seine Liebe zu zeigen“), dann wird das Gottesbild vergiftet. Liebe wird zu etwas Bedrohlichem, Gott zu einem autoritären Herrscher, der seinen Beauftragten erlaubt, zu verletzen und zu zerstören. Wie soll da noch Glaube möglich sein?

Zur Fortsetzung „Missbrauch: Heilung ist ein langer Weg


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Ursula Schmidt

Ursula Schmidt ist ev. Pfarrerin und seit 20 Jahren in der Leitung freier Gemeinden, als Autorin, Seminarsprecherin, Seelsorgerin und Traumafachberaterin unterwegs. Mit ihrem Mann Manfred lehrt sie u.a. im Rahmen des Axis-Bibelstudiums und zum „Hörenden Gebet".

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Ein Gedanke zu “Missbrauch: Kirche muss Grenze von Loyalität und Nähe vermitteln

  1. „Kurz und knackig“, komplexe Sachverhalte verständlich und nachvollziehbar auf den Punkt gebracht!
    Vielen Dank Ursula für diesen Artikel!
    Liebe Grüße
    Martina Froidevaux

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