Umdenken durch „Corona“: Geht noch was ohne Gebäude und Pfarrer?

Die EKD muss unabhängiger werden von Personal und Gebäuden. Sie muss die Corona-Krise endlich nutzen, um „Kirche“ neu zu denken, sagt Swen Schönheit

Papierkirche gegen Sonne gehalten

Wieder hatten wir in Kirchenkreisen und Gemeinden vor den Osterfeiertagen reichlich Stress mit der Frage: Öffnen oder nicht? Gottesdienste vor Ort, Open Air oder nur digital? Wie wird Ostern 2021 (wie zuvor schon Weihnachten 2020) im Gedächtnis bleiben?

Die Corona-Pandemie legt einiges bloß an ungeklärten Fragen im System unserer Kirchen. Denn Gemeinde ereignet sich hierzulande wie selbstverständlich unter Rahmenbedingungen, die über Jahrhunderte gewachsen sind: Die Glocken läuten, die Türen stehen offen, der Gottesdienst wird von vorne geleitet und von hinten bespielt. Dazwischen sitzt eine Gemeinde, die in der Regel ebenso abhängig ist von ihrem vertrauten Gebäude wie vom Dienst der bezahlten Mitarbeiter.

Blick auf verfolgte Kirche ist lehrreich

Bereits ein Seitenblick auf die weltweite Christenheit sollte uns aufrütteln: Die Kirche wächst paradoxerweise am stärksten in Ländern, wo sie verfolgt wird, wo sie nicht wie selbstverständlich auf Gebäude und Hauptamtliche zurückgreifen kann. Die Hilfsorganisation „Open Doors“ listet 50 solcher Länder auf und rechnet mit zurzeit rund 300 Millionen Christen, die unter Verfolgung leiden, so viele wie noch nie in der Geschichte!

Den Gläubigen zutrauen, „Kirche“ zu sein

Sind wir durch unsere Lockdown-Erfahrungen ins Nachdenken gekommen? Sollte diese Pandemie nicht Anlass genug sein, um gründlicher zu fragen: Wie können wir künftig „Kirche“ leben auch unabhängig von Gebäudebestand und Personalschlüssel? Trotz aller Reformkonzepte und Positionspapiere sehe ich eine Menge ungeklärter Fragen:

  • Wird Kleinstgruppen von „zwei oder drei“ Menschen, die sich im Namen Jesu versammeln (Evangelium nach Matthäus, Kapitel 18, Vers 20), zugetraut miteinander Gottesdienst zu feiern?
  • Innerhalb der EKD ist ungeklärt: Darf, soll es zuhause Abendmahlsfeiern geben, wie sie die Apostelgeschichte für die erste Gemeinde beschreibt (Kapitel 2, Verse 42 und 46)?
  • Wann schalten Pfarrer und Pfarrerinnen konsequent um auf „Ertüchtigung“ der Ehrenamtlichen, statt Gemeindeglieder nur zu „versorgen“? Wo geschieht in unseren Gemeinden geistliches Training?
  • Wollen wir „Gemeinde“ länger als Versammlung in einem Gebäude verstehen oder zumindest ergänzend als Beziehungsnetz von Glaubenden und Suchenden?

Gemeinden wurden im Lockdown digitaler

Ja, es gab einen „Digitalisierungsschub“ auch in den Gemeinden. Wir sind mutiger geworden, uns auch online zu versammeln und online Gottesdienste zu feiern. Pfarrer und Pfarrerinnen sind im Lockdown über sich hinausgewachsen.

EKD: Reformstau bei Hauskreisen und Evangelisation

Dennoch: Wir haben es als evangelische Kirche seit Generationen versäumt, bestimmte Hausaufgaben zu machen. Und jetzt zeigt sich in der Virus-Pandemie mit Macht der Reformstau. Dazu zwei Stimmen aus unserem „evangelischen Erbe“, die bis heute nicht ausreichend gehört werden.

Martin Luther regte 1526 an, dass sich Menschen, „welche mit Ernst Christen sein wollen“, auf privater Ebene als „Kirchlein“ sammeln sollten. Dort könnten sämtliche Vollzüge des Gemeindelebens stattfinden. Die Idee blieb in der Schublade, bis der Pietismus sie ab 1675 umsetzte. In vielen Gemeinden sind „Hauskreise“ auch heute noch eine Randerscheinung, in anderen dagegen bilden sie das Rückgrat der Gemeindearbeit.

Johann Hinrich Wichern rief 1848 dazu auf, die Kirche müsse „zu den Leuten kommen“, wie Jesus es tat: „Wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in den großen Städten. Die Straßenecken müssen Kanzeln werden, und das Evangelium muss wieder zum Volk dringen.“ Die Diakonie beruft sich bis heute auf Wichern, die Evangelisation bleibt den meisten suspekt.

Die Frohe Botschaft auf die Straße bringen

Ich frage mich: Warum haben wir als Kirche den öffentlichen Raum den „Querdenkern“ überlassen? Warum gab es kaum eine Verkündigung der Osterbotschaft an den „Straßenecken“? Menschenketten (mit gebührendem Abstand), die „Christ ist erstanden“ sangen? Bläserchöre, die den Osterjubel auf die Plätze unserer Ortschaften brachten?

„Corona“ ist ein Weckruf für die Kirche

Ist Kirche hierzulande so eingeschüchtert, so mit sich selbst beschäftigt, dass uns darüber die Frohe Botschaft abhandenkommt? Die Viruspandemie ist ein Weckruf auch für die Kirche, eine Anfrage an unser bisheriges System. Und damit eine Chance für neue Ansätze!

Swen Schönheit

Swen Schönheit ist evangelischer Pfarrer in Berlin-Heiligensee und 1. Vorsitzender der GGE Deutschland.

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2 Gedanken zu “Umdenken durch „Corona“: Geht noch was ohne Gebäude und Pfarrer?

  1. Gemeinde als „Beziehungsnetz von Glaubenden und Suchenden“ – das trifft es.
    Gerade im Berlin der fluiden Spätmoderne wird spürbar: Zugehörigkeit zu Gemeinde muss anders gedacht und gelebt und anerkannt werden als bisher.
    Ja, Suchende gehören zu „Gemeinde“! All die Menschen zwischen Jesus-Faszination und Zweifelskämpfen die uns im Neuen Testament begegnen. Menschen auf dem Weg. Überwältigt von eigener Unzulänglichkeit (Petrus). Berufen und doch abgewandt (Judas). Noch nicht bereit mit Jesus unterwegs zu sein und doch auf dem Weg zu ihm (Markus als ‚Reicher Jüngling‘). Ein handfester Materialist (Thomas). Eine vom Leben verwundete (Maria Magdalena). Ein Unsicherer (Nikodemus). – Ja, sie alle gehören zur Gemeinde. – „Beziehungsnetz von Glaubenden und Suchenden“, Dankeschön!

  2. Ich stimme dem Inhalt des Beitrages zu, befürchte aber, dass die EKD hier nicht zuständig ist.
    Ich zitiere aus einem an mich gerichteten Schreiben der EKD zu einem anderen Sachverhalt: „Als ‚die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen‘ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundordnung der EKD) hat die EKD dachverbandartige Aufgaben, wobei sie zudem als gliedkirchlicher Zusammenschluss nicht auf die landeskirchlichen Bekenntnisse in Bezug auf Lehre, Leben und Ordnung einwirkt. … Dies ist Sache der Landeskirche …“

    Dennoch bleibt die Frage: Was können Hauptamtliche, Ehrenamtliche und/oder Gemeindemitglieder – „welche mit Ernst Christen sein wollen“ – tun?

    WIR sind DIE KIRCHE und haben den Auftrag von Gott, das Evangelium zum Volk zu bringen. Wer kann uns daran hindern? Fehlt uns einfach der Mut, eingetretene Pfade zu verlassen? Sind die Bedenken zu groß, um gemeinsam, Landeskirchen-übergreifend die Initiative zu ergreifen und z.B. ‚an und um Straßenecken herum mit Menschenketten und Bläserchören‘ auch bzw. gerade in Chorona-Zeiten von Jesus zu erzählen? Natürlich ohne die Gesundheit auch nur eines einzigen Menschen zu gefährden.

    Wer traut sich, die „welche mit Ernst Christen sein wollen“ zusammenzutrommeln bzw. zusammen zu blasen? Lautstark, damit es Viele hören und sich anschließen können.

    Nach Ostern folgt Pfingsten ;-)! Danke für den Impuls und Gottes Segen, Monika Backof

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