Begegnen Menschen in der Kirche noch Gott?

Suchen die Menschen in der Kirche etwa nicht mehr den Glauben? Axel Nehlsen hat sich durch die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gearbeitet. Im 2. Teil sagt er: Die Kirche muss mit Gottes Kraft rechnen und umso mehr das Evangelium verkünden.   

Was bedeuten die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) für lebendige Gemeinden, für eine missionarische Kirche und für die Erneuerungsbewegungen? Diese Frage stelle ich heute, im 2. Teil meines Berichts zur 6. KMU (den ersten Teil lest ihr hier). Ein 3. und letzter Teil folgt.

„Von der Wiege bis zur Bahre“ hat die Kirche große Chancen

Hier liegt eine große Chance: Neben der familiären Sozialisation, sagt die KMU, verstärken die Angebote von Konfirmation, Religionsunterricht und kirchlichen Jugendgruppen die Bindung an die Kirche. Die „größte Breitenwirkung“ aber haben Taufe, Konfirmation und Trauung, vor allem aber die Beerdigung: „Sie stellen eine wichtige Kontaktstelle auch zu denjenigen Menschen dar, die nur noch wenige andere Berührungspunkte zum kirchlichen Leben haben.“

Das sind zunächst einmal positive Nachrichten. Sie weisen den Gemeinden, ihren Haupt- und Ehrenamtlichen eine große Verantwortung in diesen Bereichen zu. Von daher sollten Konfirmandenunterricht und Jugendgruppen unser besonderes Augenmerk bekommen. Aber auch der Religionsunterricht hat offenbar – trotz aller Schwächen und des manchmal leider nicht überzeugenden Lehrpersonals – eine prägende Wirkung. Sollten wir von daher nicht in unseren lebendigen Gemeinden mehr zur Ausbildung für Religion an den Schulen motivieren – und dafür beten?

Und dann die von den Pfarrpersonen oft nicht so geliebten Amtshandlungen: Sie waren und sind, mehr als wir meinen, offenbar missionarische Gelegenheiten – und oft der einzige Berührungspunkt von säkularen Menschen mit der Kirche und ihrer Botschaft. Deshalb verdienen sie besondere Sorgfalt und Mühe.

Soll Kirche sich etwa aus dem Glauben heraushalten?

Als Gründe für den Gottesdienstbesuch nennen die Befragten erstaunlicherweise vor allem ästhetische Motive – den Kirchenraum, die Musik, die Atmosphäre –, aber auch die Predigt. Weiter stellt die KMU fest: „Teilweise geht es auch darum, Gemeinschaft zu erfahren. ,Heiliges‘ oder eine normative Orientierung werden überwiegend nicht gesucht.“ Wegen der geringen Nachfrage nach Religion könne ein „religiöser Fokus … zu einer Distanzierung der Mehrheit der säkularen und distanzierten Kirchenmitglieder führen“.

Wie ich schon im ersten Teil meiner Analyse sagte, werden laut KMU Aktivitäten der Kirche im Bereich sozialen und solidarischen Handelns am meisten gefragt, erwartet und eingefordert: „Setzt die Kirche hier einen Schwerpunkt, wird sie die größte Zustimmung und Attraktivität entfalten können.“

Was in der Umfrage gänzlich fehlt, ist die Frage nach dem Gebet. Säkulare Umfragen der letzten Jahre haben gezeigt, dass erstaunlich viele Menschen (vor allem in Krisensituationen) beten. Wobei die Frage ist, ob das schon christliches Gebet ist. Aber immerhin wäre es ein Anknüpfungspunkt.

Kirche muss Begegnung mit dem lebendigen Gott ermöglichen

Diese Erkenntnisse sind für alle, die eine missionarische Ausrichtung der Kirche schätzen, schwer verdaulich. Sollte es wirklich so sein, dass die Botschaft des Evangeliums und eine Orientierung in Lebensfragen gerade nicht gesucht werden? Nun, wir können die schlichten Fakten dieser Umfrage sicher nicht einfach ausblenden. Aber hier gilt noch einmal mehr, was ich im ersten Teil meines Berichts schon schrieb: Umfrageergebnisse dürfen nicht (allein) den Inhalt unserer Botschaft und unseres Handelns definieren. Es kommt vielmehr auf die Treue zu unserem Auftrag und auch auf die konkrete Situation an.

Deshalb ist zu fragen: Wo begegnen denn säkulare Menschen und distanzierte Kirchenmitglieder der Botschaft vom lebendigen Gott? Wenn wir die obigen Erkenntnisse über den hohen Stellenwert der Amtshandlungen berücksichtigen, sind sie einer dieser Orte. Ebenso Konfirmanden- und Religionsunterricht. Hinzu kommen inzwischen auch die digitalen Wege der Verbreitung des Evangeliums, besonders die sozialen Medien.

Ich denke, dass es wesentlich darauf ankommt, wie Menschen in diesen Situationen die Botschaft von Jesus Christus und ihre Überbringer erleben. Wenn wir in diesen Bereichen mit der transformativen Kraft von Wort und Geist Gottes rechnen, würden Menschen nicht dann wieder verstehen, was das Evangelium und was Gott wirklich mit ihrem Leben zu tun hat?

Kirche muss die kraftvolle Stimme des Evangeliums sein

Ich weigere mich jedenfalls, aus den Umfragedaten die Konsequenz zu ziehen, dass die Kirche sich auf die eingeforderten Bereiche des sozialen und solidarischen Handelns begrenzt. Hier ist aus der Umfrage die gegenteilige Konsequenz zu ziehen, dass nämlich umso mehr das kraftvolle und Leben verändernde Evangelium laut werden muss. Und zwar in einer missionarisch verantwortlichen Art, in einer einfachen und verständlichen Sprache (!) und in einer guten Zuordnung von Anknüpfung und Widerspruch – wir müssen anknüpfen an die teils unbewusste Sehnsucht des Menschen nach Sinn und Liebe, gleichzeitig den falschen menschlichen Lösungen dafür widersprechen. Wenn es sich dann noch um eine missionale (also ganzheitliche, Wort, Tat und Lebensstil umfassende) Vermittlung des Evangeliums handelt, erhöht sich die Glaubwürdigkeit und Wirkung.

Menschen erwarten Reformen

Die Kirchen stehen vor vielfachen Krisen und sehen sich großen Reformerwartungen ausgesetzt. Dabei erwarten Katholische nichts anderes von ihrer Kirche als Evangelische, aber der Reformdruck auf die katholische Kirche ist größer. Evangelische treten laut KMU vor allem deshalb aus, „weil ihnen das Thema Religion und Kirche in einem längeren biografischen Prozess gleichgültig geworden ist“. Also nicht wegen Defiziten bei den religiösen Angeboten! 43% würden nicht austreten, „wenn sich die Kirche gesellschaftlich-politisch stärker engagieren würde“. Sehr große Mehrheiten der Kirchenmitglieder und Gesamtbevölkerung „erwarten und fordern radikale Reformen von den Kirchen“.

Kirchenbindung: Vergessen wir die sozial Schwächeren?

Die „kirchennahe Religiosität“ ist mit der 1968er-Generation sehr stark eingebrochen und bleibt seitdem „auf stabil niedrigem Niveau“. Ein Sonderfall ist die Frage nach dem Glauben an ein Leben nach dem Tod. Wie in früheren Studien stimmen hier Jüngere eher zu als Ältere. Gleichzeitig geht dieser Glaube in Deutschland gesamtgesellschaftlich zurück, von 48% im Jahr 1998 auf jetzt 40%.

Erstaunlich ist auch die soziale Streuung: Wer seine wirtschaftliche Lage als gut einstuft, neigt „kirchennaher Religiosität stärker zu“ als andere. Unter den am kirchlichen Leben aktiv Beteiligten „sind die Gebildeten heute deutlich überrepräsentiert“. Die Gefahr ist, dass die „im Bildungsprozess Zurückbleibenden und Zurückgelassenen“ auch im kirchlichen Leben kaum mehr vorkommen. In der Konsequenz sind ganz neue Formen kirchlichen Handelns erforderlich wie sie zum Beispiel in den „Erprobungsräumen“ entwickelt werden. Dazu gehört auch eine konsequente Sozialraumorientierung.

Die Botschaft in einer veränderten Welt verkünden

Nicht den Anschluss an den kulturellen Wandel zu verlieren, für die jüngere Generation attraktiv zu bleiben und nicht nur gesellschaftlich Etablierte anzusprechen, sind also zentrale Herausforderungen. Dem steht entgegen, dass die meisten (auch lebendigen) Gemeinden schwerpunktmäßig oder ausschließlich die obere Mittelschicht erreichen. Welche Möglichkeiten und erprobten Modelle gibt es, auch untere Schichten zu erreichen?

Außerdem gehören die engagierten Kirchenmitglieder überwiegend der mittleren und älteren Generation an (mit positiven Ausnahmen). Müsste die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht wieder stärker in den Fokus unserer Gemeindearbeit treten? Ferner bleibt es eine wichtige Aufgabe, die Botschaft des Glaubens verständlich und überzeugend einer postmodern geprägten Kultur zu vermitteln. Auch hier wäre es gut, neuere Modelle von Glaubensvermittlung, Glaubenskursen und Predigt, auch über digitale Wege, zu fördern und zu erproben. 


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Axel Nehlsen

Axel Nehlsen, Pfarrer i.R., war bis 2016 Geschäftsführer des Stadtnetzwerks „Gemeinsam für Berlin“. Er ist als Mentor tätig und baut gerne Brücken zwischen Landeskirche und Freikirchen und zwischen evangelikaler und charismatischer Tradition.

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