Ukraine-Krieg: Wer betet mit, dass sich russische Augen öffnen?

Viele „Versöhnungs-Wege“ ins russische Wolgograd – früher Stalingrad – sind zwischen 1995 und 2015 gegangen worden, berichtet Pfarrer Hans-Joachim Scholz. Er fragt: Wer betet heute mit, dass sich russische Augen für das Unrecht öffnen, das in ihrem Namen in der Ukraine begangen wird?

Hans-Joachim Scholz (rechts) bei der Ankunft 1995 in Wolgograd (dem früheren Stalingrad).

Albrecht Fürst zu Castell-Castell, Mit-Initiator der „Versöhnungs-Wege“ im 50. Jahr nach Kriegsende, hatte nach den bewegenden Erfahrungen 1995 gesagt: „Die ,Versöhnungs-Wege’ gehen weiter!“ Er und viele, die damals dabei waren, spürten: Da war etwas aufgebrochen, wir schlossen mit der Bitte um Vergebung die alte Geschichte nicht ab. Vielmehr kam unter dem Teppich der Nachkriegszeit vor allem in Osteuropa das verdrängte Leid hervor.

Wir kennen die Versöhnungskraft Jesu

Ich war 1995 Teil der Reisegruppe „von Stalingrad nach Wolgograd“. 114 Christen und Leiter von Gemeinden, Werken und Hauskreisen fast aller Konfessionen waren dabei, im Alter von einem halben Jahr bis 84. Die Einladung kam vom „Runden Tisch der Religionen“ in Wolgograd, angeregt durch Pastor Sergej Altuhov. In Gottesdiensten und öffentlichen Versammlungen wie auch bei Besuchen in Kindergärten, Altenheimen, Krankenhäusern, Fabriken, Schulen und Universität bekannten wir uns gegenüber unseren Gastgebern zur Schuld unserer Väter und baten unseren Vater im Himmel, alte Wunden zu heilen.

Wir begaben uns auf diese Reise, weil wir die Versöhnungskraft Jesu kennen: Keine Schuld ist zu groß, keine Wunde zu tief für ihn. Jedoch ist ein Dienst der Versöhnung erforderlich, durch den wir bitten: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Brief an die Korinther, Kap. 5, V. 20).

Vergebung heilt und bewirkt Glauben

Wir haben erlebt, wie die Bitte um Vergebung heilt, wie Heilung Glaube erzeugt und Herzen zum Vater im Himmel bekehrt. Glaubenskurse mündeten in Taufgottesdienste und Gemeindewachstum. Von 1995 bis 2015 waren über 25 kleine und größere Gruppen in Wolgograd. 2003 kam ein russischer Gegenbesuch per Bus zum 1. Ökumenischen Kirchentag nach Berlin: Die Teilnehmer sprachen in der Kirche am Südstern in Anwesenheit mehrerer evangelischer und katholischer Bischöfe ihrerseits die Bitte um Vergebung für die russische Schuld aus.

Sich demütigen macht Eindruck

Bei unserem Besuch zum 70. „Tag des Sieges“ über Nazideutschland am 9. Mai 2015 wurde noch einmal deutlich, wie unglaublich es für unsere russischen Gastgeber war, dass wir für die Schuld unserer Väter um Vergebung baten: „Wie kann man sich so demütigen?“, fragte der Sprecher der Veteranen. Wir erzählten ihm unsere Geschichte: Wie unsere Väter und Großväter ideologisch indoktriniert und verblendet wurden, wie ihre Herzen mit Überheblichkeit und Stolz vergiftet waren, welche Scham uns erfüllte (und immer noch erfüllt) wegen des Vernichtungskriegs gegen Russland und des Völkermords an den Juden Europas. Er ahnte irgendwie, was diese Bitte um Vergebung für uns bedeutete. Deshalb nahm er spontan im Gottesdienst eine seiner beiden Gedenkmedaillen von seinem Jackett ab und heftete sie mir an den Talar.

Werden Russen um Vergebung bitten?

An diesem „Tag des Sieges“ 2015 erlebten wir nicht nur das Gedenken an die russischen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs, sondern auch eine stolze Militärparade mit Feuerwerk und der klaren Botschaft: Wir sind auferstanden aus dieser schlimmen Zeit. Seither haben wir eine für uns im Westen unvorstellbare Entwicklung hin zu dem russischen Überfall auf die Ukraine erlebt.

Werden die Russen erkennen, welchen Lügen sie glauben? Können sie sehen, welches Leid dieser Krieg ihren Nachbarn bringt? Mit welcher Brutalität die Ukraine zerstört und ihre Bevölkerung vertrieben wird? Welches Unrecht im Namen des russischen Volkes begangen wird? Sie werden nicht für die Generation ihrer Väter um Vergebung und Heilung bitten müssen, sondern für ihr eigenes Versagen. Wird die Erfahrung unserer Schwestern und Brüder in Wolgograd mit unseren „Versöhnungs-Wegen“ ihnen helfen, nun in eigener Sache für Versöhnung zu sorgen? Wird es zu entsprechenden Initiativen gegenüber der Ukraine kommen? Können wir ihnen dabei helfen? Wer hört unsere russischen Geschwister und betet für sie?

Wir beten für die Ukraine um Frieden. Wir kümmern uns um die Flüchtlinge. Haben sie eine Chance, den Hass zu überwinden? Werden wir ihnen einen „Dienst der Versöhnung“ leisten können? Werden die Wunden an Leib und Seele auch geistlich geheilt? Wird Vergebung möglich? Die „Versöhnungs-Wege“ gehen weiter …

Brot, Wein und Salz als alte Zeichen der Versöhnung: Pfarrer Hans-Joachim Scholz (links) übergibt das Brot 1995 an Grigory Kononow, den Oberbürgermeister der Wolgograder Nachbarstadt Wolschskij.
„Versöhnungs-Wege“

„Dürfen wir das Wort aus 2. Chronik 7,14 auch für unser Volk in Anspruch nehmen? Dort heißt es: ,Wenn mein Volk, über das mein Name genannt ist, sich demütigt, dass sie beten und mein Angesicht suchen und sich von ihren bösen Wegen bekehren, so will ich vom Himmel her hören und ihre Sünde vergeben und ihr Land heilen.’ So viel war für uns sicher: Das 50. Jahr nach Kriegsende, das am 8. Mai 1994 beginnen würde, sollte noch einmal zum Anlass genommen werden, die Völker um Vergebung zu bitten, die von Deutschland überfallen worden waren.“
So beschreibt Friedrich Aschoff, damals Pfarrer in Kaufering und 1. Vorsitzender der GGE, die Beweggründe für die Aktion „Versöhnungs-Wege“. Im Februar 1994 reiste eine Delegation nach Auschwitz. Dort verstärkte sich der Impuls: Die „Versöhnungs-Wege“ wurden mit Fürst Albrecht zu Castell-Castell, dem Mainzer Weihbischof Dr. Franziskus Eisenbach und Dr. Karl-Heinz Michel von der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal (+2006) ins Leben gerufen.
1994, 1995 und 2001 wurden mehr als 30 „Versöhnungs-Wege“ in 23 Länder Europas gegangen, darunter Polen, Frankreich, Russland, Italien, Griechenland, Estland. Insgesamt nahmen mehr als 600 Personen daran teil.

Quelle: Friedrich Aschoff, Hinterher gesehen. GGE-Verlag, Hamburg 2004 (nur antiquarisch erhältlich).

Hans-Joachim Scholz

Hans-Joachim Scholz ist Pfarrer in der badischen Landeskirche und seit Kurzem im Ruhestand. Er und seine Frau Rita leiten den GGE-Dienst „Kirche und Israel“, weil beides für sie unbedingt zusammengehört.

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